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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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nicht, so zu tun, als entstünde das Werk von allein, hast es aber weder auf Hilfe abgesehen noch darauf, Illusionen vorzutäuschen - in allem, was du tust, bleiben die Spuren deiner Handbewegungen zurück. Deine Pinselstriche anzuschauen ist wie in deinen Kopf zu sehen, in deine Seele.»Niemand anderem habe ich je meine Seele gezeigt.
    Sie versuchte, die sich auf der Leinwand abzeichnende Szene zu entschlüsseln.«Du solltest sie wirklichkeitsnäher und gewaltsamer darstellen», meinte sie.«Ein Wirrwarr aus zermarterten Körperteilen, Köpfe massakrierter Kinder, Körper von Müttern. Unerträglich muss es sein.»Niemand hat je so mit mir zu reden vermocht, Herr. Mit niemandem habe ich den Entstehungsmoment einer Arbeit teilen können. Die anderen sahen lediglich das, was schon vollbracht war. Aber nie vermochten sie das zu erahnen, was verloren war, was das Licht der Welt nicht verdient hat. Marietta wusste alles - wie ich.«Der Tod eines Kindes ist stets ein Mord», sagte sie,«und diese Szene ist die Ermordung der Mörder. Male etwas, das man sich nicht ansehen kann. Bei dem man wegschauen muss.»Ich erklärte ihr, dass ich mich gerade dabei befände. Aber ich würde es ohne die Darstellung von Blut und Waffen tun. Das Leid, das wir nicht sehen, sei schlimmer und grausamer als das, was zum Vorschein komme.

    Marietta bat mich, mich später beim Aufhängen der fertigen Leinwand im Erdgeschoss der Rochusbruderschaft begleiten zu dürfen. Gern wolle sie wieder einmal einen Blick in den darüberliegenden Saal werfen. Nie sei sie es leid geworden, sich ihn im fertigen Zustand anzusehen. Sie habe diese Bilder allein durch die Gabe meiner Hand entstehen und langsam aus ihrer Formlosigkeit auftauchen sehen. Die Gabe, das wiederzugeben, was ich in mir hätte, als ob mein Geist einen lebendigen Schatten auf die Welt werfen würde. Die Gabe, etwas scheinbar Einfaches entstehen zu lassen, rein und klar wie Wasser - das uns aber unaufhörlich erstaune, befrage, überwältige. Zu wissen, wie der Gottvater in der Vision des Jakob wirklich aussehe, sei ein einmaliges Glücksgefühl, denn für alle anderen sei er ja kaum mehr zu erkennen - er hänge viel zu weit oben. Oder unser schwebender Bote in Elias wird von dem Engel genährt , der sich nun an der Decke befinde. Sie aber habe den Engel direkt vor der Nase gehabt - und zwar genau hier. In ganz Venedig gebe es nichts, das mit der Rochusbruderschaft vergleichbar sei. Und sie sei so ergriffen, so stolz, die Tochter eines Mannes zu sein, der ein solches Werk zustande gebracht habe.
    «Oho», fiel ich ihr ins Wort,«das muss ja ein großer Batzen Geld sein, den du von mir geliehen haben willst, dass du deinem alten Vater derart viel Honig um den Mund schmierst!»«Hin und wieder müssen wir uns einfach die Wahrheit sagen, Jacomo», entgegnete sie. Ich fragte sie, ob sie sich auf der Feier amüsiert habe.«Nein», antwortete sie,«die Leute sind dermaßen gewöhnlich und langweilig, dass ich mich einfach nicht amüsieren kann, wenn du nicht dabei bist. Ohne dich ist die Welt wie Salat ohne Öl und Salz, wie Gnocchi ohne Sauce, wie Kissen ohne Federn!»«Lügnerin», erwiderte ich, obschon mich ihre Worte glücklich machten.
    Marietta erzählte, dass sie eine Arbeit angeboten bekommen habe. Ein Graf aus Nürnberg wolle von ihr ein Portrait seiner venezianischen Geliebten anfertigen lassen. Reichlich fünfzehn
Dukaten habe er dafür geboten.«Wenn du meinst, das sei genug, mir scheint es wenig», bemerkte ich.«Du bist einiges mehr wert.»«Sag mir die Wahrheit», forderte sie mich auf und riss mir den Pinsel aus der Hand.«Auch ich habe sie dir gesagt, jetzt bist du an der Reihe. Würden sie ein Portrait von mir wollen, wenn ich nicht deine Tochter wäre? Wenn ich nicht die Tintoretta wäre, sondern eine Frau namens Marietta Augusta?»«Unsinn, mein Kind», erwiderte ich.«Du bist du.»«Lügner», sagte sie.«Ohne dich bin ich nichts.»
     
    Nach einer endlos langen Reise vom Hafen von Nangasache nach Portugal, Spanien und schließlich Rom kam Ende Juni eine Gesandtschaft aus dem Reich der Ficenga in Venedig an. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo es sich befindet - vermutlich irgendwo im Orient bei Japan. Es waren zwei junge Prinzen und vier Botschafter, die aussahen, als wären sie erst fünfzehn Jahre alt, mit einer Gefolgschaft aus Pagen und Dienern. Den Zweck ihrer Reise, oder ob sie überhaupt einen verfolgten, kannte ich nicht. Auch wusste ich nichts von der Nachricht, die

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