Tintorettos Engel
ich nicht weniger als die Heilsgeschichte darstellen. Sollte mir das nicht gelingen, sollte die Rochusbruderschaft eine Niederlage werden, kann die Nachwelt alle meine Leinwände verbrennen und mich vergessen. Mein Leben wird keinen Sinn gehabt haben.»
«Die Heilsgeschichte?», fragte Faustina.«Genau», gab ich zur Antwort,«die Geschichte des Heils, erlangt durch die Erlösung von jeglichem Leid. Die Befreiung von körperlichem Leid - Hunger, Krankheit, Elend. Und die Befreiung von seelischem Leid - Versuchung, Sünde, Tod.»«Aber wessen Heil?», fragte sie lächelnd.«Das Heil der Menschheit», antwortete ich.«Und meins.»
Und tatsächlich respektierte meine Frau, die meine Bilder gar nicht mochte, sie geradezu verstörend und schrecklich fand und Angst vor ihnen hatte, mein jahrelanges Suchen, meine Einkehr und Abgeschiedenheit. Alle respektierten es.«Pscht, Papa denkt nach», ermahnte Ottavia ihre kleine Schwester.«Papa zeichnet, Papa entwirft, sei still.»Eingeschlossen in meinem Atelier hörte ich, wie meine Familie inmitten von klapperndem Besteck und Geschirr zu Tisch saß - Lauras Geschrei, das Gezanke meiner Söhne, Mariettas Musik am Cembalo und ihre klare Stimme, wenn sie ein Lied anstimmte. Zwar sah ich sie selten, aber sie war immer fröhlich. Ihre Heiterkeit half mir, nicht in Schwermut zu versinken. Wie konnte ich da ahnen, dass ihr unbeschwerter Eindruck in Wirklichkeit nur eine aufgesetzte Maske war. Marietta hatte nicht im Geringsten durchblicken lassen, dass ihr Leben eine Farce war.
Wenn ich nur einen einzigen dieser Augenblicke erneut erleben könnte, wüsste ich die Hinweise und Zeichen zu deuten. Gewisse Sätze und Anspielungen, manches Schweigen würde eine andere Bedeutung bekommen. Aber ich hörte nur Mariettas Schritte in dem Zimmer über meiner Decke, die ich so schrecklich lieb gewonnen hatte. Möglicherweise stellten sie sogar eine Art
Tonleiter dar - sie spielten die Noten unserer geheimen Musik. Denn auch sie hörte mich. Meinen Husten, meine Stimme, meine Laute. Wenn ich ein Möbelstück verrückte, eine Schublade öffnete oder zwischen die Bettlaken schlüpfte. Hin und wieder, Herr, kommt mir diese Decke, die uns voneinander getrennt hat, wie das Schwert im Bett von Tristan und Isolde vor.
In der letzten Karnevalsnacht kamen Marietta, ihr Mann und ihre Brüder in der Morgendämmerung von einem Fest im Deutschen Handelshaus zurück. Zu jener Zeit gingen meine erwachsenen Kinder mehr und mehr ihre eigenen Wege und lehnten sich sowohl gegeneinander als auch gegen mich auf. Dennoch gingen sie zusammen aus, unterstützten sich, berieten sich in jeglicher Hinsicht, reichten sich wohlwollend Arbeiten weiter, bildeten gemeinsame Fronten, standen sich gegenseitig bei. Sie nannten sich«die vier Tintoretti». Wie die vier Himmelsrichtungen, die vier Jahreszeiten, die vier Reiter der Apokalypse. Ich war noch bei Kerzenschein in Arbeit versunken. Auf eine braune Leinwand malte ich gerade die ersten Figuren vom Mord der unschuldigen Kinder .
Jahrelang widmete ich der Scuola di San Rocco auch die Zeit, in der ich hätte schlafen müssen. Ich dachte an nichts anderes als daran, etwas zu erschaffen, das mich überdauern würde. Der Rest meines Werkes hätte meinetwegen verschwinden können, etwa in einem Feuer wie dem im Dogenpalast. Die Bruderschaft jedoch nicht, nein, denn in ihren Sälen befand sich der eigentliche Sinn meines elendigen Daseins. Allerdings von allem Schund und jedem Makel bereinigt - auf ihr reinstes Wesen reduziert. Schönheit. Demut. Leidenschaft. Anerkennung der grenzenlosen Vielfalt der Welt und der von der Vorsehung bestimmten Bedeutung jeden Leids. Grenzenlose Suche nach dir, Herr. An diese Bilder dachte ich Tag und Nacht, selbst im Traum begegneten sie mir. Wenn ich das nicht getan hätte, wenn ich es geschafft hätte, sie
wenigstens für ein paar Tage oder ein paar Stunden zu vergessen, hätte ich vielleicht etwas mehr mitbekommen - von Marietta, meinen Söhnen und mir.
Marietta trat ohne anzuklopfen ein, wahrscheinlich hatte sie das Licht im Türrahmen gesehen. Obwohl sie sehr blass und abgemagert aussah, begriff ich damals nicht, dass es ihr nicht gut ging.«Es ist sehr spät», sagte sie liebevoll,«du solltest dich ein wenig zur Ruhe legen.»«Schlafen werde ich, wenn ich tot bin», erwiderte ich.
Sie stellte sich neben mich. Sie schaute mir gern beim Malen zu.«Du entwirfst», sagte sie,«während du malst, du versteckst den Pinsel nicht, versuchst
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