Tintorettos Engel
Mit stolzgeschwellter Brust und vom Dünkel eingenommen, saß ich in meinem mit weißem Pelz gesäumten schwarzen Talar neben meiner Frau in der Kirchenbank, die halbherzig mitbetete und Laura zur Beruhigung an ihrem Finger nuckeln ließ. Die vierzig Benediktinerinnen - hinter der Fensterfront im Chor zusammengepfercht - bildeten gemeinsam einen einzigen schwarzen Fleck.«Die Republik der Frauen», flüsterte mir Marietta zu.«Dieses winzige Kloster ist ein unabhängiger Staat, in dem die Frauen wählen, denken, studieren, arbeiten und sogar Staatsoberhaupt werden. Venedig wird uns das nie erlauben. Perina und Lucrezia haben weit mehr Glück als ich.»
Doch während sich Lucrezia bäuchlings auf die Erde warf und dem Geistlichen versicherte, dass Nonne zu werden und Gott zu dienen ihr einziger Wille sei und dass niemand sie zu diesem Schritt gezwungen habe, dachte ich nur: ein Leben für ein Leben. Wir sind quitt, Herr. Genau das war es, was mir durch den Kopf ging.
Es waren glückliche Jahre. Der Sturm hatte sich gelegt. Ich hatte getan, was sein musste, und war mit mir selbst im Reinen. Alles, worauf man verzichtet, wird irgendwann zu einem verlorenen Land und so unerreichbar wie unsere Vergangenheit. Es herrschte Wohlstand und eine heitere Atmosphäre, der nichts und niemand etwas anhaben konnte. Meine Familie gedieh prächtig. Dessen konnte ich mir sicher sein, schließlich war es Faustina, die sich um uns alle kümmerte. Sie war unser Zentrum, die Kraft, die uns zusammenhielt. Durch das Nebeneinander vieler verschiedener Charaktere unter einem Dach konnte es zu Reibungen und Spannungen kommen und sich mitunter Ärger anstauen, aber Faustina löste die einen und vertrieb den anderen. Das alles gelang ihr allein mit ihrem gesunden Menschenverstand. Und ihrer Liebe. An all diese Tage - Tausende von Tagen, denn es geht hier um Jahre - erinnere ich mich kaum noch. Vielleicht weil sich die Ereignisse aus unserer Jugend mit besonders großem Nachdruck in unsere Seele einprägen und sich alles Spätere wie gekräuseltes Wasser auf dem Meer gleich wieder auflöst. Mit über vierzig graben sich die Eindrücke weniger tief in uns ein, weswegen wir sie mit noch brennenderer Gier in uns aufsaugen, mit über sechzig aber gräbt sich dagegen nichts mehr irgendwo ein. Als wären unsere Lebensstichel stumpf und wir ein Metallschirm geworden, absolut bruchfest. Später kann uns nur noch der Schmerz Schrammen zufügen.
Aber vielleicht erinnere ich mich auch an nichts, weil ich gar nicht dabei war, Herr. In gewisser Hinsicht bin ich meinem Leben ferngeblieben. Meine Arbeit nahm mich vollständig in Beschlag.
In jenen Jahren verwirklichte ich mein Denkmal für San Rocco - und für dich. Ich hielt meine Abmachung ein. So wie du. Das Bündnis eines Menschen mit Gott erzeugt Kräfte, die Berge versetzen. Allerdings quälte mich meine große Unwissenheit immer mehr, und ich bekam Angst, dich nicht so rühmen zu können wie ich wollte. Ich machte mir Vorwürfe, mir in meiner Jugend und später im reiferen Alter nie die Zeit genommen zu haben, mich zu bilden. Daher begann ich eifrig die Bibel zu studieren. Immer und immer wieder las ich die lateinische Schrift, bis sich die Worte, die ich nie verstanden hatte, in meinem Herz festsetzten.
Mit Faustinas Vetter Don Vincenzo - einem gelehrten Priester, der erst kürzlich Pfarrer einer Gemeinde hinter San Marco geworden war - stellte ich Vergleiche zwischen dem Alten und Neuen Testament an und diskutierte über die Bedeutung sämtlicher Gleichnisse, Prophezeiungen und Wunder. Er wies mich darauf hin, dass das Hoffen auf ein Wunder - dem ich mich in schwierigen Situationen häufig überließe - kein Zeichen meiner Glaubensstärke, sondern meiner Glaubensschwäche sei. Wenn ein Wunder geschehe, würde lediglich ein menschliches Begehren erfüllt. Aber man solle Gott nicht derart missachten, dass man ihn zum Verbündeten unserer Träume und Begierden mache. Gott sei die Welt, die Geschichte, die Zeit. Er brauche sich nicht zu offenbaren, um zu existieren. Im Johannesevangelium stehe geschrieben: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben . Don Vincenzo versicherte mir, dass sich mir Gott in seiner Abwesenheit offenbare. Und ich nur dann wahrhaftig glaube.
Ich lernte das Johannesevangelium auswendig. Diese einfachen und zugleich fürchterlichen Verse gruben sich tief in meine Seele ein. Das Evangelium endet auf wahrhaft unglaubliche Weise. Man
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