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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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merkt es erst gar nicht. Aber es endet damit, dass der schreibende Jünger - Christi Lieblingsjünger - von einer Prophezeiung erzählt, die ihn selbst betrifft. Dass der Evangelist Johannes auch ein
Mensch ist, erwartet man nicht - ebenso wenig, dass seine persönliche Geschichte in irgendeiner Weise wichtig für die Menschheit ist. Christus ist den Aposteln zum letzten Mal erschienen und hat Petrus in den Märtyrertod geschickt. Petrus folgt ihm also nach, merkt jedoch, dass ihm der Jünger, den der Herr am meisten geliebt hat, hinterherläuft. Da fragt Petrus den Herrn verwundert, was aus seinem Lieblingsjünger Johannes werde. Und Jesus antwortet: Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt, was geht dich das an? Du aber folge mir nach .
    Nun, die Prophezeiung besagt, dass Johannes, Christi Lieblingsjünger, nicht sterben wird. Er wird nicht den Märtyrertod erleiden, sondern ihm wird gegeben sein, lange zu leben. Da der Satz ein wenig sonderbar klingt, habe ich ihn mir folgendermaßen übersetzt: Du wirst so lange leben, bis ich wiederkommen werde .
    Immer und immer wieder las ich diesen Vers. Ich zermarterte mir regelrecht das Gehirn. Alle, die mir möglicherweise Klarheit verschaffen konnten, fragte ich nach einer Erklärung. Niemandem aber gelang es, mich davon zu überzeugen, dass der Lieblingsjünger des Herrn nicht von seinem eigenen Evangelium sprach. Er sagt, dass Er ihn nicht sterben lässt, bis er Zeugnis davon gibt, bis er also sein Buch geschrieben hat. Jedes Mal, wenn ich von Fieber befallen wurde, wenn ein Katarrh meine Lungen verstopfte, wenn ich mich schlaff und matt fühlte und der Arzt mir mit einem lachenden und einem weinenden Auge sagte: Du bist kein junges Fohlen mehr, Jacomo, schau dich doch an, und ich meine Zeit wie den Docht einer Kerze erlöschen spürte, dachte ich an dieses Ende. Solange ich nicht wiederkomme, wirst du nicht sterben . Aber auch ich bin ein Jünger, den du liebst - denn dass du mich liebst, Herr, hast du mir bewiesen. Dass ich mit einer Spur von Talent geboren wurde, hast du gewollt. Alles, was ich vollbracht habe, ist dir zu verdanken. Auch das Böse, auch meine Sünden hast du gewollt. Also werde auch ich nicht sterben, ehe du nicht wiederkommst. Ich werde mein Werk vollenden.

    In Gesellschaft meiner Gehilfen fühlte ich mich nicht mehr ausreichend gefordert. Selbst die Musik genügte mir nicht mehr. Ich umgab mich mit gelehrten Menschen: junge Schriftsteller, die sich einen Namen machen wollten, indem sie allgemein verständliche Biografien über Heilige verfassten, Kaufleute, die Metaphysik betrieben, Politiker, die zwischen zwei Senatssitzungen die Schöpfung in Verse verpackten, Geistliche, die solch überzeugende Predigten verfassten, dass man sich zur Verteidigung dieser Thesen auf der Stelle hätte kreuzigen lassen. Hin und wieder diskutierte ich sogar im Parlatorium von Sankt Anna mit meiner Tochter über den Begriff der Erlösung - ich beugte mich zu ihr hinüber, um ihrer himmlischen Stimme hinter dem Gitter zu lauschen. Besser als die meisten Theologen und Geistlichen, die ich aufsuchte, vermochte mich meine süße und weise Schwester Perina wenigstens mit einem kleinen Lichtschimmer zu beglücken. Perina meinte, die moralische Anfälligkeit der Menschheit äußere sich in der persönlichen Sündenlaufbahn eines jeden Einzelnen. Dennoch führe uns die Gnade zum Guten, und dank seiner Fähigkeit, sich mit der Freiheit des eigenen Willens für das Gute zu entscheiden, könne das menschliche Geschöpf höhere Weihen erlangen, ja Gott ähnlich oder sogar gleich werden, zumindest aber sei es in der Lage, die Kommunion mit dem Göttlichen zu erreichen und seine eigene Endlichkeit zu überwinden. Darin liege der Sinn der Auferstehung. Auferstehen bedeute, in die Ewigkeit und Unendlichkeit einzugehen.
    Ihre Worte stimmten mich heiter, da sie meinem Leben und dem, was ich in der Rochusbruderschaft anstrebte, eine Bedeutung zu geben schienen und auch meinem Tod einen Sinn verleihen würden, und wenn ich an das geglaubt hätte, was sie mit so viel Leichtigkeit und aus tiefer Überzeugung formulierte, hätte ich tatsächlich zufrieden in meinem Körper einschlafen und auf ewig in der Unendlichkeit wieder aufwachen können.
    «Ich habe mich auf ein übermenschliches Projekt eingelassen»,
erklärte ich meiner Gemahlin, als sie sich über meine geistige Abwesenheit beklagte und mir vorhielt, griesgrämig wie ein Eremit geworden zu sein.«Auf vier Wänden will

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