Tintorettos Engel
die sie belustigten und verwirrten. Es verwunderte sie sehr, dass sich die Venezianer - wie alle Italiener und Europäer insgesamt, obschon sie doch in Bezug auf den Rest wie Religion, Sprache und Gebräuche unterschiedlich seien - auf Gemälden und Portraits abbilden ließen, um sich dann in ihre Paläste und Wohnzimmer zu hängen. Ihre wahren Gesichter mitsamt
Falten, schütterem Haar, eingefallenen Mündern, hervorstehenden Bäuchen: kurz, mit jedem kleinsten Detail. Warum wir das täten?«Herrscher lassen sich portraitieren, um ihre Macht zu bekräftigen und damit sich ihre Untertanen stets von ihnen kontrolliert fühlen», erklärte ich.«Sie lassen ihr Gesicht sogar auf Geldmünzen prägen, die noch nach ihrem Tod in Umlauf sind.»«Und die anderen?», fragten die jungen Japaner.«Warum lassen sich auch Händler und Bäcker, Kurtisanen und Familienmütter portraitieren? Welche Macht wollen sie denn behaupten?»«Das hat damit zu tun, dass wir Angst vor dem Tod haben», antwortete Marietta dem Jesuiten, der für die Gäste übersetzte.«Für eine Familienmutter ist ein Portrait weitaus wichtiger als für einen König. Dass ein König auf Erden gelebt hat, davon erzählen seine Unternehmungen, die Denkmäler, die er errichten ließ, die Kirchen, die er geweiht hat, und die Bauwerke, die er seinem Volk hinterlässt. Dass ein gewöhnlicher Mensch gelebt hat, davon zeugt ausschließlich sein Portrait. Und genau deswegen malen wir sie, es ist so, als wollte man erzählen, dass dieser Mensch existiert hat.»
Unsere Gäste überreichten mir ein dünnes Papierröllchen: Während ich es öffnete, kam langsam ein in schwarzer Tinte gemaltes und in einem Strauch sitzendes Vögelchen zum Vorschein. Der Jesuit erklärte mir, dass dieses Stück Papier, kaum größer als ein Taschentuch, so viel wert wie eine sechs Ellen lange Leinwand von mir sei. Ich hatte noch nie so etwas gesehen. Ich dachte an den Maler, der es mit unglaublichem Geschick gezeichnet hatte. Vielleicht gab es ja am anderen Ende der Welt ein zweites Ich.
Zu guter Letzt standen die vier jungen Botschafter bei mir Modell. Vor dem dunkelgrünen Vorhang, der mir als Hintergrund diente, und zwischen meinen täglichen Arbeitsutensilien sahen sie aus wie von einem anderen Planeten. Damals stellte ich mir zum ersten Mal vor, dass die Sterne möglicherweise gar keine Feuerkrone um den göttlichen Thron, sondern kleine Zwillingsspiegel
unserer Welt sind, in denen sich bis ins Unendliche unsere Leben spiegeln - wo Dinge geschehen, die sich hier nicht ereignet, ja gefehlt haben, und sich die Möglichkeiten verwirklichen lassen, die wir hier versäumt haben. Mit erstaunlicher Geduld und in vollkommener Stille posierten die Barone mehrere Stunden lang. Auch ich arbeitete höchst konzentriert - die Portraits für die Bewohner von Ficenga sollten einzigartig werden. Die Vorstellung, dass eines meiner Werke Asien durchquerte und das andere Ende der Welt erreichte, erfüllte mich mit Stolz. Denn unsere Werke, Herr, sind viel freier als wir. Sie überwinden Zeit und Raum. Sie haben keine Fesseln. Werden nie alt. Eine gelungene Arbeit ist immer so jung, als wäre sie erst gestern gemalt worden. Eines Tages würde vielleicht der Schöpfer dieses Vögelchens meine Gemälde anschauen und das Gleiche denken wie ich.
Aber diese Gemälde haben Venedig nie verlassen. Die Senatoren, die sie in Auftrag gegeben hatten - und mir eine Belohnung von zweitausend Scudi versprachen -, haben sie nie ins Reich der Ficenga geschickt. Sie hängten sie in den Dogenpalast zum Andenken an die Tage, als die ausländischen Gesandten kamen und der Republik Venedig huldigten. Zum Andenken an eine Macht, die es indes nicht mehr gab - nur noch in unseren Träumen. Vielleicht hätte ich das den Botschaftern antworten sollen: Wir lassen uns portraitieren, um den Augenblick festzuhalten. Um einen Moment aus der Geschichte und dem Leben nicht so zu erzählen, wie er wirklich war, sondern wie er hätte sein müssen - indem man die Achse der Wahrheit ein klitzekleines Stück verschob, gerade so viel, um sie so darzustellen, wie sie in Wirklichkeit nie gewesen ist. Um gegenüber der Zeit, der Stille und Gott so festgehalten zu werden, wie wir in unseren Träumen und Erfindungen waren oder zu sein glaubten.
Die Kopie des Portraits von Don Mantio, die Marietta für uns angefertigt hat, bewahre ich im Atelier auf. Wenn ich sie mir anschaue, habe ich den Eindruck, meinen Funken darin wiederzusehen,
an jenem
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