Tintorettos Engel
mir ausdachte, erschien mir völlig unsinnig, als es darum ging, es in die Tat umzusetzen. Ich verspürte nicht mehr das kleinste Interesse an den Hunderten von Figuren, die sich im Himmel der Auserwählten tummelten. Ihre Seligkeit war mir völlig fremd. Mein Entwurf sah vor, alle Figuren, die ich im Lauf meines Lebens gemalt hatte, darauf abzubilden. Das Paradies sollte wie die Apotheose der venezianischen Regierung, wie die überzeugende Darstellung des Mythos von Venedig aussehen, während es eigentlich meine private Theaterbühne war, die letzte Vorstellung, bei der alle mitspielten, die ich erschaffen hatte - alle Frauen, Männer, Heiligen, Madonnen, Engel, Sünder. Ich wollte sie Venedig als Geschenk hinterlassen und mit mir in den Himmel nehmen. Aber nicht eine Einzige habe ich selbst gemalt.
Tag für Tag, Monat für Monat versammelten sich auf den Leinwänden immer mehr Figuren zu kleinen Grüppchen. Da nicht einmal der gewaltige Bau der Bruderschaft der Barmherzigen für das Vorhaben groß genug war, teilten wir das Paradies in mehrere Teile, die wir an den Wänden entlang aufstellten. Vom Boden bis zur turmhohen Decke, bis man mit dem bloßen Auge eine Wolke nicht mehr von einem Gewand unterscheiden konnte, war alles über und über bevölkert mit Menschen, die zum Himmel hinaufdrängten. Diese ordentlich zusammengetriebene Herde vermittelte
mir ein Gefühl der Unruhe. Sie brachte mich durcheinander, erschreckte mich sogar. Indem mir dieses ganze Volk achtlos den Rücken zukehrte, verurteilte und verstieß es mich. Ich klein, krumm und allein - sie größer als in echt, zahlreich und einig. Alle hatte ich sie dort oben anbringen lassen. Aber bei der Ausführung, Herr, war ich nicht dabei. In den Wochen und Monaten kletterte ich immer seltener auf das Gerüst, hauptsächlich nur, um Dominicos Arbeit in Augenschein zu nehmen. Oder vielmehr meine. Am Ende war er ich geworden.
«Du kannst Marco Augusta sagen, dass ich ihm, falls er Geld für einen Umzug nach Deutschland braucht, gern welches leihe», murrte ich, ohne den Blick vom Bild abzuwenden.«Wenn er vorher noch Schulden begleichen muss, soll er sich keine Sorgen machen.»«Papa», reagierte Dominico empört,«Marco Augusta hat keine Schulden, er ist ein sehr angesehener Juwelier.»«Jesus sieht aus, als säße er auf dem Abtritt», sagte ich daraufhin streng.«Das ist widerlich. Als müsste er im Scheißhaus sitzen statt an einer Wand im Dogenpalast. Versuch es irgendwie auszubessern.»«Sonntagnachmittag werde ich sie besuchen gehen», sagte ruhig der hinter mir stehende Dominico,«Marietta würdest du eine große Freude machen, wenn du mitkämst.»«Der Sonntag ist der Tag des Herrn, und den widme ich dem Gebet», erwiderte ich und stieg vom Gerüst.
Mit einer Engelsgeduld versuchte es Dominico immer wieder, sobald er mich in der richtigen Stimmung wähnte. Mal erzählte er, Marietta und der Juwelier würden ein paar Freunde zu einer kleinen Einweihungsfeier einladen; mal erwähnte er seinen an Ostern bevorstehenden Besuch und dass Marco Augusta hoffe, mich, seinen verehrten Vater, zum Geburtstag seiner Frau wiederzusehen - er wusste, dass ich diesen glücklichen Tag immer sehr feierlich begangen hatte. Im Sommer erzählte er, er habe Marietta im Garten der Eisvögel getroffen, wo die deutschen Kaufleute ein Abschiedsfest für ihren Hofnarr gaben, einen wahrhaften
Homunkulus, für den die Gonzaga mehrere tausend Dukaten geboten hatten, war er doch wahrhaftig eine bestaunenswerte Rarität, kaum eine Elle lang, klein wie eine Puppe. Marietta habe einen zerstreuten Eindruck auf ihn gemacht. Er glaube, die Melancholie habe sie wieder befallen, und ein Besuch von mir werde bestimmt Abhilfe schaffen.
Schließlich flocht Dominico in seine Erzählungen den zwischen den Juwelieren von Rialto umlaufenden Klatsch und Tratsch ein: Maddalena, das Dienstmädchen von Marco Augusta, gehe mit bunt glitzernden Edelsteinen am Ohrläppchen auf den Markt, hantiere mit Silbermünzen und benehme sich wie eine Herrin. Angeblich habe sie ein Kind namens Orsetta, das bei seiner Großmutter gleich hinter La Casaria wohne, dem Käsemarkt. Im Rialto erzähle man sich, es sei möglicherweise das Kind des Juweliers. Er, Dominico, schenke dem Gerücht jedoch keinen Glauben, da Marco Augusta sein Freund sei, allerdings habe er in der Werkstatt in der Calle della Scimmia tatsächlich eines Tages eine alte Vettel mit einem vielleicht zwei Jahre alten Kindchen an der Hand gesehen.
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