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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Ein bezauberndes kleines Mädchen mit schwarzem Haar und schneeweißer Haut. Marco Augusta habe die beiden auf der Stelle rausgeworfen.
    Ich wiederholte immer die gleiche Leier.«Sie ist es, die gegangen ist. Marietta kennt meine Adresse. Wenn sie mich sehen will, soll sie zu mir kommen.»Ich musste meinen Stolz wahren. Und meine Würde. Um Verzeihung habe ich nie gebeten.
    Im Herbst ließ Marietta nach mir schicken, um mir ihre letzten Arbeiten zu zeigen. Historien nannte sie sie. Sie wolle sich endlich an etwas Anspruchsvollerem als an Portraits versuchen. Ihr sei klar geworden, dass sie es nicht länger aufschieben könne.«Man gilt nicht als richtiger Maler, wenn man keine Historienbilder malen kann. Eine Geschichte, an der schon viele andere Maler herumgedeutelt haben, obwohl sie sich nicht ereignet hat, und die du dir erneut ausdenken musst. Sie hat mich gebeten, dir den Vers
eines dir bekannten antiken Dichters aufzusagen», berichtete mir Dominico.« Diese Dinge geschehen nie, sind aber immer .»
    Ich sagte Dominico, er könne ihr ausrichten, dass mich tagtäglich irgendein Farbenkleckser um mein Urteil seiner Missgeburten bitte. Jeder, der einen Pinsel in der Hand halten könne, liefere seine Mappe an meiner Haustür ab, um mir mit seinen miserablen Kopien meiner Arbeiten zu schmeicheln, die jedoch allenfalls eine Beleidigung meines Geschmacks seien. Mir sei nicht daran gelegen, über das Geschmiere von Marietta Augusta zu befinden.
    «Marietta geht es nicht gut», warf Dominico gedankenverloren Ende Januar in den Raum, als wir im Halbdunkel meines Ateliers die Abrechnung machten. Unsere Kunden bezahlten zwar bei ihm, aber er händigte das Geld mir aus. Und wie damals, als er noch ein Knabe war, gab ich ihm seinen Anteil.«Sie hat vorher gewusst, dass San Giacomo dall’Orio ein krankmachendes Viertel ist», brummte ich.«Dort gibt es weder Bäume noch Gärten, die Luft ist vom Dunst der Gerbereien und dem Staub der Webstuben verseucht. Ein Wunder, dass sie noch keine durchlöcherte Lunge bekommen hat. Wäre sie in Madonna dell’Orto geblieben, ginge es ihr gut.»«Es liegt nicht an der schlechten Luft», versuchte Dominico mir zu erklären.«Sie muss das Bett hüten. Den ganzen Tag lang allein, weiß sie aber nicht, was sie tun soll, sie sehnt sich unsterblich nach dir.»«Bat sie dich, mir das zu sagen?», fragte ich nach. Einen Moment lang flackerte eine goldene Ringellocke auf einem blassen Nacken vor meinen Augen auf.«Nein», bekannte Dominico,«aber ich kann mir das selber zusammenreimen.»«Dann misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein.»«Das hab ich schon immer getan», widersprach Dominico,«und du warst es sogar, der mich darum gebeten hat.»«Nie werde ich dahin gehen. Nie», sagte ich mit Nachdruck.
    Eines Abends endete die Ratsversammlung der Scuola di San Rocco spät. In jenen Jahren beteiligte ich mich ausgiebig an den Geschäften der Bruderschaft, deren Leitungsgremium ich angehörte.
Es wurde verbissen über die Verwendung einer großen Summe Geldes diskutiert - die jedes Ratsmitglied auf andere Weise einsetzen wollte. Es ging darum, die Unterkünfte für die Armen zuzuteilen. Dafür mussten die Listen der invaliden Brüder, die sich ihr täglich Brot nicht mehr selbst verdienen konnten, der Witwen und Waisen auf den aktuellsten Stand gebracht werden. Alles redliche Leute mit wohlfeilen Grundsätzen und holder Gesinnung. Arme, verdienstvolle Menschen eben. Aber irgendwann wurde mir bewusst, dass ausschließlich die Armut derer für verdienstvoll gehalten wurde, die Schutzbefohlene der verschiedenen Ratsmitglieder waren, während man die der anderen als schlichtweg wohlverdient ansah. Das widersprach jedoch allem, wofür ich als Stellvertreter meiner Klasse und meiner Zunft, als Mann und Künstler gelebt hatte. Ich empfand plötzlich eine unglaubliche Abscheu - ob vor meinen Freunden oder vor mir, war mir nicht klar.
    Während dieser anmaßenden Diskussionen stieg ein unangenehmes Kribbeln in mir auf. Ich hielt mich jedoch zurück. Immerhin war die Rochusbruderschaft mein Zuhause und dein Reich. Nie hätte ich Schande über sie kommen lassen. Im Gegenteil, ich hätte dafür gekämpft, damit sie ihren ursprünglichen Ruf wiedererlangen würde, auch wenn der Kampf aussichtslos wäre. Edle Niederlagen zählen mehr als anrüchige Siege. Aufgebracht und erhitzt verließ ich die Versammlung. Ich brauchte frische Luft zum Atmen. Das Angebot eines Ratsmitglieds, das in meiner Nachbarschaft

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