Tintorettos Engel
Freiheit zu bereuen, die sie sich gegenüber der Welt und sich selbst herausgenommen
habe, wenn sie nicht im Fegefeuer schmoren wolle. Erst heute erkenne ich, dass dies bloß ein Spiel und ihre Art war, sich zu necken und vielleicht zu lieben.
Aber Dominico sagte mir nicht die Wahrheit. Marietta hatte für ihn posiert. Dominico lernte den weiblichen Körper kennen, indem er den ihren studierte. Er malte sie, während sie kaum einen Schritt von ihm entfernt saß und er mit einem kurzen Blick von der Leinwand ihren Gesichtsaudruck, die geschwungene Form ihres Ohrs und die weichen Züge ihrer Wange erforschen konnte - und er malte sie auch, als er sie nur mit den Augen der Erinnerung sehen konnte und sich zwingen musste, sie sich ins Gedächtnis zu rufen. Außerdem malte er in einer Art, die mich noch heute beschämt. Während er sich eines Tages auf der Baustelle im Dogenpalast aufhielt, ging ich auf der Suche nach einer Skizze, die ich ihm geliehen hatte, in sein Zimmer, als ich sie plötzlich vor mir sah. Über dem Schreibtisch an der Wand neben seinem Bett erblickte ich ein Portrait, das Dominico ein paar Jahre zuvor gemalt hatte. Es hing am Flügel einer Art Schrank, in dem er seine Bücher verstaute. Er stand offen. Im Inneren befand sich - wie in einem Versteck, das nur für die Augen des Besitzers gedacht war - Marietta.
Sie war in unerhört elegantem Staat - ein edler, rosafarbener Umhang mit grünem Futter aus Damast, eine weiße Bluse über einem gedrungenen Leibchen, mit viel zu großzügigem Ausschnitt. Und überall Perlen: um den Hals, an den Ohren und als Pünktchen am Saum ihrer Bluse entlang. Marietta mit einer zum Halbmond aufgesteckten Frisur, karminrotem Lippenstift, üppigem Busen, der von der Perlenreihe bedeckt wurde, die den unteren Rand des Bildes darstellte. Weder schaute sie ihren Maler noch den Betrachter an - sie ignorierte uns. Der Umhang war alles andere als eine wärmende Hülle. Ihre Hände hielten den Kragen weit auseinandergestreckt, als hätte sie der Maler genau in dem Moment überrascht, als sie sich ausziehen wollte.
Aber es kam noch schlimmer. Wie der ersten Strophe eines Gedichts
folgte auf Dominicos Bild eine Fortsetzung. Das zweite hing auf der Rückseite des ersten. Auf dem hatte Marietta den Umhang abgelegt. Auch die Bluse war aufgeknöpft. Rosafarben war nun der Hintergrund und weiß ihre entblößte Haut. Als wollte sie ihn nicht auf die Erde fallen lassen, hielt sie in verhohlener Absicht, in Wahrheit aber, um ihre hinreißenden Brüste zur Geltung zu bringen, einen durchsichtigen Schal hoch. Wie kleine Blütenblätter stachen unter dem milchigen Weiß ihre rosaroten Brustwarzen hervor.
Das Erschütternde war nicht die aufreizende Geste oder die einnehmenden Rundungen, die Dominico so glaubwürdig auf die Leinwand gebannt hatte, das Erschütternde war vielmehr Mariettas Ausdruck: Der entrückte Blick voller Stolz und Zurückhaltung stand in schreiendem Kontrast zur Körperhaltung - willig und fordernd. Marietta selbst hätte sich nicht wahrheitsgetreuer darstellen können. Sogar ich habe es nicht geschafft.
Dass ich das Bild entdeckt hatte, verriet ich meinem Sohn nicht. Seine bloße Existenz raubte mir jedoch den Schlaf. Und als eines Tages ein ausländischer Edelmann mein Atelier aufsuchte und mich nach einem Bild einer Frau für das Kabinett in seinem Schlafzimmer fragte, mit dem er seiner Männlichkeit ein wenig nachhelfen könnte, verkaufte ich es ihm kurzerhand. Der Fremde meinte, diese sinnliche Frau habe einerseits etwas von einer Kurtisane, die einen auf der Stelle vor Fleischeslust wahnsinnig machen könne, und sehe andererseits wie eine Jungfrau aus, die einem jeden Moment einen Dolch ins Herz steche.«Genauso ist es», bestätigte ich ihm.
Verzweifelt nach dem Bild suchend, stellte Dominico das ganze Haus auf den Kopf und machte aus Angst, dass Diebe es ihm gestohlen haben könnten, einen Wirbel, der seine gesamten philosophischen und religiösen Grundsätze über den Haufen warf. Als er feststellte, dass kein Dieb in unser Haus eingedrungen war, da weder Gitterstäbe angesägt noch Riegel zerstört waren, beschuldigte er seinen Bruder Marco, ihm aus Neid um sein Talent
einen bösen Streich gespielt und sein Bild zerstört zu haben.«Der Teufel soll mich holen, sollte ich jemals auf die Idee kommen, du sein zu wollen, Dominico», spöttelte Marco,«du hast nichts, was ich mir wünsche, du bist doch ein billiger Fußsoldat, ein Priester, ein blöder
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