Tintorettos Engel
unerträglich lang. Dominico versuchte mich abzulenken, indem er mich immer wieder mit aktuellen Neuigkeiten von der Baustelle Tintoretto im Dogenpalast und in der Scuola San Fantin versorgte. Er tat dies mit einer Güte, mit der man üblicherweise ein altes Turnierpferd tätschelt, das nicht mehr ins Rennen geht. Zum Zeitvertreib unternahm meine Frau Spaziergänge durch Venedig mit mir. Ich betrat sämtliche Kirchen und kam beglückt, in jeder etwas von mir hinterlassen zu haben, wieder heraus. Wenn wir mit der Gondel heimkehrten, zeigte ich auf dieses und jenes Fenster und erzählte Faustina, dass da oben in der Privatkapelle dieses Senators meine Prinzessin hänge, dort im Schlafzimmer jenes Botschafters wiederum meine Danae und da hinten im Gemach des Bischofs meine Susanna. Auch in jedem Palazzo von Venedig hatte ich etwas von mir hinterlassen. Als uns allerdings der Rio Sant’Agostin eines schönen Tages hinter die Kirche San Giacomo dall’Orio brachte, merkte Faustina ganz nebenbei an, dass hier in dieser Kirche und im ganzen Viertel nichts von mir zu finden sei.
Mein Werk war vollbracht. Dafür hatte ich gelebt. Man hatte es mir ermöglicht, mein Ziel zu erreichen. War ich glücklich, Herr? Stolz? Hatte ich meinen inneren Frieden gefunden? War ich fähig, die Früchte meiner Saat zu genießen? Die Belobigungen, den Erfolg, den Ruhm, für den ich ausschließlich gelebt hatte? Weniger denn je. Ich wollte die fehlenden Tage zurück, die gestohlenen Stunden, mein Leben. Ich hatte das Gefühl, als erwartete mich etwas, als müsste noch irgendetwas kommen. Irgendwann hörte ich auf, in meine Kirchen zu pilgern. Irgendwann erinnerte ich mich nicht mehr, wo meine Ehebrecherinnen - weiterverkauft von einem zum anderen - letztlich gelandet waren. Ich hörte sogar auf zu malen. Auch Dominico ließ keine Neuigkeiten mehr über Mariettas Gesundheitszustand durchsickern, die ich mir ohnehin nie mit Interesse angehört hatte. Ich wartete und spielte Laute, spielte und wartete.
Aber nichts. Alles war mir fremd geworden. Nichts war mehr der Mühe wert. Mein gesamtes Leben hatte sich aufgelöst. Eine Seifenblase. Ein Kindertraum. Alle meine Taten und Worte eine Klammer im Nichts. Und wenn einer für nichts gelebt hat, war es so, als wäre er nie auf die Welt gekommen. Bis ich eines Morgens im Juli Schila bat, mir eine Gondel zu besorgen, und ich mich nach San Giacomo dall’Orio fahren ließ.
Das Haus erschien mir noch schiefer als beim ersten Mal. Von den angrenzenden Spinnstuben regnete dichter, weißer Wollstaub herab. Vor ihren Hütten saßen auf abgewetzten Strohsesseln Frauen in Grüppchen beieinander und stillten ihre Kinder. Im Hof wohnten bitterarme, zerlumpte und abgemagerte Weber. Ihre Rücken waren schief, die Finger krumm. Das Geräusch der Webstühle erinnerte an das regelmäßige Ticken von Uhren. Im vierten Stock kam mir das Dienstmädchen entgegen, das sich die Hände an der Schürze sauber wischte. Sie waren groß und gerötet. Aus den Kochtöpfen in der Küche strömte ein einladender Duft nach Meer.«Wen darf ich melden?», fragte mich Maddalena, als hätte sie mich noch nie gesehen.«Niemanden darfst du melden», erwiderte ich,«ich bin ihr Vater.»
Ich folgte ihr durch ein von der Julisonne durchflutetes Wohnzimmer. Marcos und Mariettas Wohnung erschien mir weitläufig und sonderbar kahl. Ihre wenigen Möbel schienen darin zu schweben. Die Magd hatte ein riesiges Gesäß. Unmöglich, den Blick von diesem ausladenden, drallen und weichen Hinterteil abzuwenden. Sicherlich erging es allen Männern so.
Maddalena zeigte auf die Tür zum Arbeitszimmer meiner Tochter.«Madonna, der großartige Maestro Jacomo Robusti», verkündete sie, nachdem sie ohne anzuklopfen die Tür aufgerissen hatte.«Ich lasse Euch umgehend allein», sagte sie anschließend zu mir. Mit einem seltsam verschlagenen Blick schien sie mir andeuten zu wollen, in irgendein Geheimnis eingeweiht zu sein.«Jacomo, du bist es!», rief Marietta, bevor sie sich mühevoll aus einem gepolsterten
Sessel hochstemmte und mit wankenden Schritten auf mich zukam.«Sag mir, dass es kein Traum ist. Manchmal sehe ich Dinge, die gar nicht da sind. Wenn ich mir etwas sehnlich wünsche, erfinde ich es mir einfach, bis ich später vergessen habe, dass es bloß Erfindungen sind. Lass dich anfassen.»
Unter dem aufgeschnürten Morgenmantel kam eine beachtliche Rundung zum Vorschein. Marietta war schwanger. Hochschwanger. Es konnte sich nur noch um wenige
Weitere Kostenlose Bücher