Tintorettos Engel
im Grunde habe er ja bereits eine Familie, und zwar meine - mitsamt der Malerei, der Werkstatt und der Mutter, um die man sich kümmern müsse; außerdem gebe es noch die Schwestern in Sankt Anna und die Mädchen - da sei kein Platz für eine weitere feste Bindung. Und solange sie nicht fest seien, brauche man sie nicht. Sobald sie aber fest seien, würden sie uns zugrunderichten, wenn sie auseinanderbrechen. Ich riet ihm,
wenigstens Kinder zu bekommen. Sie würden leben, wenn er nicht mehr da sei, und ihm Ewigkeit verleihen.
Aber wenn dann auch die Söhne sterben würden, widersprach Dominico, dann gerate auch er in Vergessenheit. Kein Familiengedächtnis halte länger als drei Generationen. Ein Stammbaum sei bloß ein Blatt Papier - und auch Blätter fielen irgendwann ab. An große Feldherrn, Forscher, Wissenschaftler, Kriminelle, Heilige, Schriftsteller erinnere man sich dagegen - und auch an Maler. Kann sein, dass er nicht dazugehören werde, ich aber schon.«Ich werde der Vater deiner Töchter werden, wenn du gestattest. Ich verspreche dir, mir nichts zuschulden kommen zu lassen. Abgesehen davon könnte ich es nicht ertragen, einen Sohn zu verlieren. Ein solches Vergehen könnte ich Gott niemals verzeihen. Ich würde ihn verleugnen, ja meinen Glauben an ihn verlieren. Ich möchte aber lieber weiter an Gott glauben. Denn meine Liebe für ihn ist wahrhaftig.»
Ich bin mir nicht sicher, ob er an mich oder an sie dachte. Beide sind wir Dominico kein gutes Vorbild gewesen. Wir schwiegen eine Weile. Das Haus schlief, kein Laut - nicht einmal das Plätschern des Wassers - war im Zimmer zu hören. Die kleinen Flammen im Kerzenständer zuckten hin und wieder kurz auf. Über Marietta redeten wir nicht. Das gehörte sich für uns irgendwie nicht. Jahrelang haben wir ständig über sie gesprochen. Als kleiner Junge - ihr Page und mein Knappe - rannte Dominico im Atelier hin und her oder von ihrem in mein Zimmer, um mir von jeder Silbe und Geste zu berichten und unbewusst Lügen und Geheimnisse zu enthüllen. Ich erwartete von ihm, mein Spion zu sein, aber am Ende war ich es, den er ausspähte.
«Marietta schläft mit einem zerfledderten Püppchen, Marietta tanzt die Galliard, weil sie meint, der Tanz sei erottisch, erokisch oder erotisch oder so ähnlich, keine Ahnung, was das heißen soll; Marietta hat mich gefragt, ob sie dir ähnlich sieht, ich hab Nein gesagt, aber sie wollte es unbedingt wissen, irgendetwas von dir
müsse sie doch haben, da hab ich sie mir ganz genau angeschaut, aber ich hab ihr gesagt, dass sie rein gar nichts von dir hat. Marietta hat sich ihre Titten im Spiegel angeschaut, die immer dicker werden, während ihr Hintern wie eine Laute aussieht. Marietta hat mich gefragt, ob sie mir gefalle, und ich hab Ja gesagt; Marietta hat mich in den Mund geküsst, weil sie wissen wollte, wie sich das anfühlt, da habe ich ihr gesagt, dass das meiner Meinung nach Sünde sei. Marietta findet, dass du mit kurzem Bart jünger aussiehst; Marietta meint, deine Haut riecht nach Öl, und ich würde genauso riechen; Marietta hat geträumt, dass Onkel Comin sie als Sklavin an einen Sarazenen verkauft hätte und du mit einem weißen Pferd gekommen wärst und sie gerettet hättest; Marietta hat ein Lied für dich geschrieben, das anfängt mit Seitdem Euer hartes Herz, weiter weiß ich nicht mehr.»Im Lauf der Zeit wich Dominico meinen Fragen immer mehr aus. Er wollte mich auf keinen Fall beunruhigen.«Nein, während deiner gesamten Abwesenheit hat Marietta kein einziges Mal zum Fenster hinausgeschaut; sie hat mit niemandem gesprochen; nein, als Pauwel und Lodewijk kamen, hat sie sich mit den Frauen in die Küche zurückgezogen; nein, keiner hat sie gesehen; nein, sie hat nicht für mich posiert; ja, natürlich hat sie vor dem Schlafen gebetet.»
Als junger Priesteranwärter zog Marietta Dominico wegen seiner jesuitenhaften Manieren auf, er aber spielte gern die Rolle des Predigers. In flammenden Reden rügte er sie erst wegen ihrer Jungenkleidung und dann wegen ihrer Art und Weise, sich als unabhängige Frau aufzuführen. Sie nannte ihn Hidalgo, keuscher Joseph, San Ignacio de Loyola, Bruder Savonarola; er nannte sie Gabriele, Ganymed, Magdalena oder Bettina Capello - eine bekannte Kurtisane, die sich gegenüber von Misericordia feilbot. Sie stachelte ihn an, endlich Mut zu beweisen und seinen Zwilling herauszukehren, um der Leidenschaft freien Lauf zu lassen, die im Feuer seiner Verse brenne - er lud sie ein, die
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