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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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an den Fondamenta dei Mori wohnte, mich auf seiner Gondel mitzunehmen, lehnte ich ab. Lieber ging ich zu Fuß nach Hause.
    Ein kalter Märzwind fegte über die Kanäle und zerstückelte die Silhouetten der Häuser und Boote in einzelne Farbsplitter. Anstatt Richtung Fähre zu laufen, drang ich an der Brücke über den Rio Marin in das eng geknüpfte Netz aus Gassen ein und stand auf einmal auf dem Vorplatz von San Giacomo dall’Orio. Der uralte
Kirchturm sah aus wie ein zerkauter Stift. Der Marmorbrunnen wurde vom Mondlicht hell erleuchtet. Als würde sie jeden Augenblick aus dem Gleichgewicht fallen, neigte sich die Hausfassade bedrohlich nach vorn. Ich schaute zu den Fenstern im vierten Stock hinauf, die, wie ich mir sicher sein konnte, zu ihrer Wohnung gehörten. Sie waren dunkel. Marietta, dachte ich, ich weiß, dass du da bist, Marietta.
    Um einen herrschaftlichen Palazzo handelte es sich nicht. Es war ein schiefes, hohes Haus, um dessen Erhalt sich seit mindestens einem Jahrhundert niemand mehr gekümmert hatte. Ein von Stimmen surrender Wohnklotz, in dem es nach Schimmel und altem Fett stank. Ich lehnte mich an die Hauswand. Der Putz war an vielen Stellen abgebröckelt. In einer Spalte zwischen zwei Backsteinen war ein Büschel Venushaar aufgekeimt. Aus den dunkelgrünen dicken Blättern spross ein zarter schwarzer Stängel hervor. Ich berührte ihn vorsichtig mit der Fingerspitze. Dieses Geschöpf hatte sich genau dort an ein Häufchen Erde geklammert und Wurzeln getrieben, wo es weder hätte wachsen dürfen noch können. Und doch blühte es und verströmte einen zarten Duft. Diese verfallene Mauer war also die Mauer zu ihrer Wohnung. Ich berührte den feuchten Putz, die samtweichen Schimmelpilze, die zersprungenen Ziegel, den verrosteten Haken für die Fackeln, das Venushaar. Und den Eisenring an der Tür. Auch sie würde ihn jeden Tag berühren. Marietta, Marietta.
    Just in dem Augenblick ging das Eingangstor auf. Ich fuhr erschrocken zusammen, aber es war nur ein kleiner Junge mit seinem Hund. Wir standen Auge in Auge.«Wollt Ihr eintreten?», fragte er mich freundlich. Der Hund - ein Pelzknäuel mit spitzer Nase und Schlappohren - winselte und beleckte meine Schuhe. Durch den Türspalt konnte ich eine steile, ins Dunkel hinaufragende Treppe mit abgetretenen Stufen erkennen. Meine Marietta, mein Funke, mein einzigartiger Stern, das Leben meines Lebens, sie war dort oben.«Nein», antwortete ich. Der Junge machte die Leine los, ließ
das Hündchen auf dem begrasten Platz auslaufen und die Tür hinter sich zufallen. Ich ging.
     
    In jener Zeit überreichte ich der Republik Venedig das monströse Gemälde vom Paradies . Es erhielt großen Beifall. Feierlich wurde es an die Wand im Saal des Großen Rates im Dogenpalast angebracht. Dort hängt es noch immer. Dann ging ich zu den Prokuratoren von San Marco, die mich ohne Aufforderung für meine vielen Arbeiten für ihre Basilika, von denen einige zehn Jahre zurücklagen, bezahlten. Ich erhielt auch hier großen Beifall. Anschließend übergab ich der Rochusbruderschaft mein letztes Gemälde. Die Heimsuchung - Marias Besuch bei ihrer Base Elisabeth. Während sich die beiden auf wundersame Weise schwanger gewordenen Frauen in den Arm nehmen, macht sich der zukünftige Johannes der Täufer im Leib seiner Mutter bemerkbar. Hierbei konnte es nur um Folgendes gehen: um das späte, unverhoffte und nahezu wundersame Entstehen neuen Lebens. Auch das erhielt großen Beifall. Aber als das Bronzetor der Scuola di San Rocco hinter meinem Rücken ins Schloss fiel, wurde mir bewusst, dass alles, was mich in den letzten elf Jahren in Beschlag genommen hatte - was mein Leben ausgemacht, was es ausgesaugt, verändert und vernichtet hatte -, plötzlich weg war, als hätte es nie existiert. Es war, als würde man eine Kerze ausblasen und alles versänke in Dunkelheit. Keine Spur davon, dass die Kerze einmal brannte, nur noch vollständige Finsternis.
    Ich war plötzlich aufgewacht, und die Zeit lief verkehrt. Im Kalender meines Lebens fehlten elf Jahre. Es war wie damals, als die Astronomen feststellten, dass die Welt voraus- und die Zeit nachging, und daher beschlossen - um die Sonne zur rechten Zeit aufgehen und den Frühling in der richtigen Jahreszeit erblühen zu lassen - von einem Tag auf den anderen drei widerspenstige Tage abzuschaffen. Für immer werden diese Tage im Kalender fehlen. Wie auch die anderen. Ich werde sie nie mehr wiederfinden.

    Meine Tage wurden

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