Tintorettos Engel
keine dreißig mehr - sondern neunundvierzig. Als Faustina es in tausend Stücke riss, versuchte ich Marietta zu beschwichtigen, dass ihre Mutter schon das Richtige tue, dass dieser Mann auf dem Bild nicht ich sei. Ich hätte vielleicht vor zwanzig Jahren so ausgesehen, was sie aber nicht wissen könne.«Natürlich bist du das», entgegnete Marietta,«und zwar nicht vor zwanzig Jahren, sondern jetzt. Meine Hand sieht dich, wie mein Herz dich sieht.»
Nie wieder malten wir im Dunkeln.
Wenn ich den ganzen Tag malend in der Werkstatt verbracht hatte, war ich abends meist sehr müde. Schultern, Hände, Arme, Füße, Augen - alles tat mir weh. Trotzdem holten wir unsere Instrumente ins Atelier und machten Musik. Auch das habe ich ihr beigebracht. Fremde Partituren ließen wir bald links liegen. Wir erfanden unsere eigene Musik, spielten aus dem Stegreif. Nur sie und ich hatten Zugang zu diesem verschlüsselten Dialog. Unsere Noten erzählten, was Worte verschwiegen. Sobald ich einen Akkord auf der Laute zupfte, setzte Marietta mit der Viola ein - ohne uns anzuschauen, kletterten wir ungeahnte Harmonien empor. Über Jahre hinweg erschien mir diese Musik in meinen Träumen - jede einzelne Note kehrte zu mir zurück und schrieb sich unverändert in meine bewusstlosen Nächte ein. Im wachen Zustand konnte ich sie mir allerdings nicht mehr in Erinnerung rufen.
Herr, welch unsägliche Glückseligkeit ich nur mit Marietta teilte! Aber alles hatte seinen Preis. Du musst verstehen, Herr, ich hatte sie mir doch erschaffen, nach meinem Ebenbild - sie war wie ein wahr gewordener Traum. Du kennst das berauschende, schwindelerregende Gefühl, aus dem Nichts, aus lebloser Materie
Leben zu schöpfen - ein Wesen dein zu nennen und dessen Gott zu sein.
Ende November brachen wir in die Berge auf. Es war das erste und einzige Mal, dass Marietta mit mir verreiste. Einige Zeit zuvor hatte ich wegen eines Portraits Cavaliere Morosini kennengelernt, der später Inquisitor und einer der mächtigsten Männer Venedigs wurde. Während er posierte, kamen wir auf Hunde zu sprechen. Sowohl Politiker als auch Maler haben nicht oft die Gelegenheit, in gelassener Atmosphäre miteinander zu plaudern, hegen doch beide ein aus Bewunderung und Verachtung gepaartes Misstrauen zueinander. Morosini war äußerst betrübt über den Tod seines Hundes und erzählte, dass ihm die Beerdigung den schlimmsten Schmerz seines Lebens bereitet habe. Und er habe wahrlich schon zahlreiche liebe Menschen verloren. Auch hatte er etliche Menschen zum Tode verurteilt. Dieser Hund aber habe eine solche Angst vor dunklen Schatten gehabt, dass ihn die Vorstellung, er liege nun tief unter der Erde begraben, das Herz zerreiße. Um ihn ein wenig aufzumuntern, erzählte ich ihm, dass ich als Junge einen Hund besessen habe, der von Schatten geradezu begeistert war. Mein Hund glaubte, sie seien echt, vollkommen lebendig. Als ich ihn eines Tages beobachtete, konnte ich feststellen, dass er recht hatte, denn Schatten sind nicht allein vom Gegenstand, der ihn projiziert, abhängig, sondern ebenso von der Luftdichte, dem Stand der Sonne und vielen anderen Dingen. Schatten können tiefschwarz oder nahezu durchsichtig sein. Sie sind also in gewisser Weise frei, veränderlich, lebendig. Und genauso wie man Schatten nicht fangen kann, gibt es nichts Schwierigeres, als sie zu malen. In aller Bescheidenheit kann ich jedoch behaupten, dass ich mit den Jahren wahrhaftes Geschick im Einfangen von Schatten entwickelt habe.
Morosini bedauerte es, mich erst so spät kennengelernt zu haben, da er mich sonst um ein Portrait seines Hundes gebeten
hätte. Als ich erwiderte, dass Hunde gute Modelle seien, weil sie beim Posieren nicht sprachen, brachte er endlich ein Lächeln über die Lippen. Zum Ende der Sitzung sagte er mir noch, dass sich die großen bildenden Künstler meist unglaublich aufspielten, was er von mir nicht sagen, aber auch nicht einschätzen könne, ob es an meinem besonders großen oder besonders geringen Selbstbewusstsein liege. Ich lachte und entgegnete, dass eine Fliege nicht wisse, warum sie fliege, es aber trotzdem tue.
Nun, er mochte mich. Als er sich eines Tages die soundsovielte Villa auf dem Land baute und seinen Salon mit Fresken ausschmücken wollte, bat er mich um die Anfertigung der Kartons. Er wünschte sich Szenen aus der Mythologie, unbekleidete Nymphen, entblößte Oberschenkel im Wind, Götter beim Bankett auf dem Olymp - Dinge, die man in Zeiten der Muße
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