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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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auf der Welt lieb und teuer. Und allein mit einem Blatt Papier und einem Fässchen Tinte kann ich es einfangen.»

    Als ich ihr das erste Mal die Augen verband, brachte sie nur belangloses Gekritzel hervor. Nach und nach aber ließ sie ihrer Hand freien Lauf und entdeckte, was Malen nicht nur bedeutet, sondern dem Wesen nach ist - sich seiner Träume zu entsinnen. Die Figuren tauchten aus dem Dunkel auf und verteilten sich exakt ihrer Vorstellung entsprechend erst auf dem Papier und später auf der Leinwand. Immer häufiger ließen wir es bleiben, nach Sonnenuntergang, wenn in der Werkstatt die Dunkelheit hereinbrach, Kerzen anzuzünden, und malten einfach in der Dämmerung weiter. Anfangs erkannte man noch das Farbpulver in den Schalen, die Federn im Glas, die Tinte im Fass, die Farbkleckse auf unserer Kleidung, die blasse Haut unserer Hände und das helle Blau des Zeichenpapiers. Stück für Stück rückte jedoch die Dunkelheit näher und verwischte die scharfen Kanten der Gegenstände, bis diese ganz mit der Nacht verschmolzen. Sogar unsere eigenen Körper lösten sich auf - sodass selbst wir uns völlig haltlos, wagemutig und frei schwebend wie im Traum bewegten. Das, was sich jenseits der Tür im Haus abspielte, nahmen wir durchaus wahr. Das Weinen der kleinen Gerolima, das Kläffen des Hundes, eingesperrt in seiner Hütte, oder die helle Leierstimme von Dominico, der seiner Mutter mühevoll ein paar Zeilen aus einem Buch vorlas. Wir hatten jedoch das Gefühl, als schwebten wir fernab von allen in einer Luftblase. Die einzigen Anzeichen unseres Daseins waren die Pinsel, die sanft über die Leinwand glitten, und unser Atem.
    «Was macht ihr da?», rief Faustina eines Abends, als sie die Werkstatt betrat.«Wir träumen mit dem Pinsel», erwiderte Marietta.«Malunterricht», sagte ich. Faustina stolperte über die Treppe, stieß die Lampe um, polterte blindlings durch die Dunkelheit. Die Werkstatt hatte keine Fenster: Nur ein einziger Lichtstreifen, der durch die halboffene Tür drang, teilte wie die Klinge eines Schwertes die Finsternis.«Was hast du dir nur wieder ausgedacht, Jacomo? Welches Spielchen treibst du hier?», fragte Faustina. Ihre
Stimme zitterte. Sie prallte irgendwo dagegen. Eine Statue aus gebranntem Ton fiel zu Boden, und etwas Stumpfes, wahrscheinlich ein Glied davon, sprang mir zwischen die Beine.«Mach Licht!», rief meine Frau.«Mach sofort Licht, du erbärmlicher Schuft!»Seltsamerweise fehlten mir die Worte.
    Marietta entzündete ein Streichholz und hielt es in die Kuhle ihrer Hand. Das gelbe Licht zauberte einen hellen, runden Schimmer auf ihr Gesicht. Ihre Haut schien durchsichtig wie Porzellan. In diesem Moment kam sie mir tatsächlich wie der Engel Gabriel vor, der dem Eremiten in der Höhle erschienen war und den Weg gen Himmel gewiesen hatte. Vielleicht war er aber auch der Teufel, der ihn mit hinab in die Hölle reißen wollte.
    Meine Frau holte aus und verpasste ihr eine Ohrfeige. Wenn Faustina die Geduld verlor, konnte es passieren, dass sie Gerolima ohrfeigte, gegen meine Tochter aber hatte sie es bisher nie gewagt, die Hand zu erheben. Hin und wieder fiel mir auf, wie sie Marietta mit ratlos aufeinandergepressten Lippen beobachtete: Ihre Befürchtungen und Ängste hat sie jedoch weder ihr noch mir jemals anvertraut. Nun plötzlich ergriff sie die Lanze der Kriegerrüstung, die seit Jahren in der Ecke vor sich hin rostete, und schlug mit irrsinniger Gewalt auf deren Metallbeine.«Raus, du verfluchte deutsche Hure», schrie sie,«hau ab! Verschwinde aus meinem Haus!»«Ah, endlich ist es raus!», entgegnete Marietta. Weil Menschen nur dann sagen, was sie denken, wenn sie wütend werden? Sie blies das Streichholz aus, und die Werkstatt lag erneut im Dunkeln.«Find mich doch, Gnädigste», forderte sie sie heraus. Faustina fuchtelte wild mit der Lanze durch die Luft - schlug gegen die Wände, stieß das Pferdchen und mehrere Büchsen um. Meine Tochter traf sie jedoch nicht. Sie war ihr entwischt. Im Dunkeln war meine Gemahlin blind.
    Nachdem sie endlich eine Kerze angezündet hatte, riss sie das Bild an sich, an dem Marietta gerade arbeitete. Es stellte einen etwa dreißigjährigen Mann von schlanker Figur dar, mit rotbraunem
Bart, hellen, lebhaften Augen, einem Schnauzer, der ihn am Sprechen hindern musste, und strubbeligem, ins Gesicht hängendem Haar. Es war eindeutig mein Portrait. Wenngleich sich mein schütteres Haar bis an die Schläfen zurückgezogen hatte. Und ich war auch

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