Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
Vom Netzwerk:
für Zerstreuung und Lusterfüllung boten, damit sie nicht in Versuchung gerieten, an Erfahrung zu wachsen und sie dadurch zu verdrängen. In der sie dich mit dreißig noch als Grünschnabel betrachteten und dich nur respektierten, wenn du weißes Haar trugst. In der - während sich die Welt unentwegt veränderte, während sich Europa reformierte und wandelte - alles so hingebogen wurde, dass sich das Neue
dem Alten anpasste und alles blieb, wie es immer gewesen war. Ich war damals erst dreißig Jahre alt und musste fort von hier, bevor ich mich von der scheinbaren Leichtigkeit einwickeln ließ, die die anderen Venezianer bereits ruhiggestellt hatte.
    Ich kannte den Sekretär des Botschafters Nicolò da Ponte, der kurz vor der Abreise nach Rom stand. Er hieß Antonio Milledonne, war mein Altersgenosse und jung, ehrgeizig und intelligent, genau wie ich. Wir verstanden uns sofort. Er vermittelte den Kontakt zu da Ponte. Ich bat ihn um einen Posten in seinem Gefolge. Der Botschafter - dreißig Jahre später zum Dogen gewählt - fragte mich, warum ich so gern nach Rom wolle. Von allen venezianischen Politikern war er dem Papst gegenüber am feindseligsten eingestellt; vehement verteidigte er die Autonomie Venedigs vor der Einmischung des Vatikans. Rom sei kein moderner Staat und werde es nie werden, befand er, und ein unmoderner Staat sei dem Untergang geweiht. Er lebe weder von Handel, Verkehr oder Industrie noch von Eroberungen: Er besitze kein Reich und lediglich ein ausgeliehenes Kriegsheer. Ebenso wenig lebe er von reiner Frömmigkeit, habe doch das weltliche Königreich seine moralische Autorität lahmgelegt. Die Päpste seien zwar immer schon große Mäzene gewesen und würden es auch bleiben, doch im Gegenzug erwarteten sie Gehorsam und Stillschweigen - Europas Könige und Prinzen würden dagegen immer mächtiger werden und ihre Sammlungen erweitern, wofür sie mit reichlich Goldmünzen um die besten Maler kämpften. In Rom gebe es nichts als Priester, lose Weiber und Verbrecher.«Für einen jungen Mann wie dich, Jacomo, wäre es sinnvoller, aus Italien wegzugehen. Das Glück auf die Probe zu stellen, in München, Wien, London, Paris, Antwerpen …»
    Ich erklärte ihm, dass die Politik nichts mit meinem Traum zu tun habe. Ich wolle Michelangelo kennenlernen. Da er bereits vierundsiebzig Jahre alt sei, hätte ich Angst, ihn zu verpassen. Ich sei stolz, im selben Zeitraum wie er auf die Welt gekommen
zu sein - ein sagenhaftes Glück angesichts der unendlichen Ausdehnung der Ewigkeit -, daher würde ich es als eine Demütigung empfinden, sollte ich ihn am Ende nicht getroffen haben.
    Milledonne prophezeite mir eine mühselige und endlos lange Reise: mit dem Schiff bis nach Ancona und weiter auf den übel zugerichteten und mit kratertiefen Löchern übersäten Pfaden des Apennins, durch unwegsames Gebirge, in verdreckten Kutschen, in der Nase den muffigen Gestank der Pferde, in Magen und Darm die miserable Kost der Poststationen. Doch der Botschafter hatte inzwischen eingewilligt und mir einen Posten in seinem Gefolge beschafft. Die Abfahrt stand unmittelbar bevor. Es ging darum, alles, was ich in sechzehn Jahren unsicherer Arbeit verdient hatte, aufs Spiel zu setzen und mich auf den Weg zu machen. So wäre auch ich ein Pilger geworden, wie jene, die über Rom herfielen, um Basiliken zu besichtigen und Heiligenreliquien zu verehren. Ich aber hätte woanders um Ablass gebeten - beim großen Meister.
    Michelangelo wusste nichts von mir. Ich hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen - während die Republik Florenz von den Medici belagert wurde, war er ein wenig ungebührlich aus der Stadt geflohen und hatte in Venedig Unterschlupf gesucht. Ich war damals noch keine zehn Jahre alt gewesen. Ich lief ihm in den Gassen der Mercerie über den Weg. Da er mich nicht sah, stolperte er und fiel mir, diesem bedeutungslosen Jungen, direkt in die Arme. Ich sah ihn an wie einen Gott. Völlig verblüfft. Der Meister des David, des Moses und der Pietà, der Meister der Propheten und der Sibyllen; der berühmteste Künstler des Jahrhunderts trug einen zerrissenen Überrock, sah aus wie ein Lastenträger und lief ohne einen einzigen Diener durch die Gegend. Welch unvergessliche Lektion in Erhabenheit und Größe.«Das ist der berühmte Bildhauer, Architekt und Maler aus Florenz», sagte mein Vater und stieß mir seinen Ellbogen in die Rippen,«er ist ins Exil gegangen, weil er gegen seinen Herrn und seine Mitbürger aufbegehrt

Weitere Kostenlose Bücher