Tintorettos Engel
Venedig herfielen, angezogen vom Ruf seiner Huren und von der legendären Freiheit, die zu genießen wir uns noch rühmen konnten, während sie im übrigen Italien und Europa allmählich dahinsiechte. Marietta dienten die Hosen ebenfalls dazu, ungestört umherzulaufen. Junge Mädchen in ihrem Alter durften das Haus nicht verlassen, da ihre Väter sie hüteten wie Goldsäckel und unter keinen Umständen vorzeigten. Ich zeigte meine Tochter beinahe jedem, wie ein kostbares Juwel. Denn das war sie wahrhaftig.«Du kleidest deine Tochter wie eine Dirne», urteilte Faustina einmal.«Was sollen die Leute von ihr denken - und von dir erst?»
Sollen sie denken, was sie wollen. Viel Phantasie haben sie ohnehin nicht. Über Jahre hinweg lieferten wir den Venezianern Gesprächsstoff. Von den Einwänden meiner Angehörigen drehte
sich mir der Magen um.«Was soll aus Marietta werden, Jacomo? Ein Junge oder eine Hure? Oder beides?», fragte mich mein noch bartloser Schwager Piero: Er war mit seinen zwanzig Jahren bereits älter als sein Vater.«Du bist und bleibst einfach verrückt im Kopf», beklagte sich meine beklagenswerte Mutter,«und Marietta ist noch schlimmer als du.»«Stimmt», räumte ich ein.«Aber du kannst es dir erlauben», gab meine sanftmütige Schwiegermutter zu bedenken,«Marietta nicht. Du verdirbst sie. Wenn ihr nicht damit aufhört, und zwar alle beide, wird sie noch wie eine von diesen Wahnsinnigen enden, die sich für jemand anderes halten.»
«Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als bei Euch vorbeizuschauen! », bemerkte unsere Hebamme und Faustinas Patin Serena gehässig, die alle meine Kinder auf die Welt gebracht hatte.«Im Hause Tintoretto ist das ganze Jahr über Karneval.»Noch Jahre später, als sich herumsprach, dass nicht nur mein Gehilfe ein Mädchen war, sondern auch Männer für mich nackt als Frau posierten, erzählten sich die Venezianer, dass dieser merkwürdige Tintoretto ein wahrhafter Heide sei, der daran glaube, dass sich Geschöpfe in andere verwandeln könnten, und in seinem Atelier Ovids Sagen aufführe, in denen die Nymphen und Hirten ihr Geschlecht verändern, um der Balz ihrer Götter zu dienen.
Hatte Marietta Talent? Diese Frage stellte ich mir nicht, weder damals noch heute. Sie malte mit Leichtigkeit, stellte zügig Kopien her und wusste Farben zu kombinieren. Sich um etwas verdient zu machen bedeutete mir mehr, als ein bestimmtes Geschlecht zu haben. Es interessiert mich nicht, ob andere das anders sehen. Ich bin nicht wie die anderen, und sie auch nicht. Meine Kinder mussten sich damit abfinden. Obwohl Marietta weiterhin eine Bürstenfrisur und Jungenkleider trug, war und wollte sie kein Junge sein. Das haben weder ich noch die anderen je angenommen. Und stets war ich der Ansicht, dass auch sie das nie von sich gedacht hat.
Die Mädchen in ihrem Alter zwängten sich in Korsetts und Käfige
aus Walfischknochen, die den Magen einquetschten und die Brust betonten; wie Ballerinen wiegten sie sich auf ihren hohen, bunten Holzschuhen in den Hüften. Marietta trug meine alten Pantinen und Hemden auf. Meine Gemahlin beschäftigte sich erst tagelang mit Stoffhändlern, die unser Haus in einen Basar verwandelten und ihre Stoffmuster zur Schau stellten, um sich anschließend mit dem Schneider zur Kleiderprobe zu treffen - denn obwohl die vielen Schwangerschaften ihrem einstmals geschmeidigen Körper zugesetzt hatten, wollte sie trotzdem immer mit der Mode gehen. Marietta verbrachte die Morgenstunden in ihrem fleckigen Arbeitskittel in der Werkstatt - wo sie meine Leinwände grundieren durfte -, hatte farbverschmierte Wangen und lackverklebte Finger. Faustina gefiel es zu gefallen, sie bevorzugte transparente Stoffe und bemalte ihre Brustwarzen mit karminroter Farbe, damit ich sie durch ihre Hüllen hindurch sehen konnte - denn ich war der Einzige, der in den Genuss ihrer Reize kam, aus dem Haus ließ ich sie nicht. Marietta besaß kein einziges Kleid. Ich merkte nicht, dass sie sich veränderte, machte mir nicht bewusst, dass sie inzwischen so alt war wie dereinst Faustina, als sie mich im Halbdunkel von Madonna dell’Orto küsste. Wenn ich mich jedoch hin und wieder zu ihr hinunterbückte, um eine Zeichnung zu korrigieren, und ihr kurzes Haar meinen Mund kitzelte und ich dabei an ihre weiche Weste stieß, ging ein Kribbeln durch meinen Körper, und ich musste sie jäh von mir wegschubsen. Marietta reagierte mit Verwunderung. Ich ließ nicht mehr zu, dass sie vor dem Essen
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