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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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größer, als du dir vorstellen kannst», versicherte ihr Hans.«Nachdem ich am Fuß der Alpen den Zoll passiert hatte, brauchte ich noch einen ganzen Monat bis Venedig.»Marietta kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und stellte eine Frage nach der anderen. Wo entspringt der Fluss, den wir hinaufgefahren sind? Was liegt hinter den Bergen? Wohin wollten die Soldaten, die auf ihren Pferden an uns vorbeigaloppiert sind? Was machen die Bauern mit diesen dreizinkigen Gabeln in der Hand? War das weidende Tier mit den dünnen Hühnerbeinen wirklich ein Schaf? Hoch lebe das Schaf aus der Anbetung der Hirten!
    Drei Stunden später, als uns der holpernde Wagen ordentlich durchgerüttelt hatte, war ihr die Lust am Fragenstellen vergangen.
Verträumt beschaute sie sich die Landschaft, überwältigt von der unendlichen Weite, die sich ihr eröffnete, und dem Horizont, der einem in Venedig allenthalben hinter Mauern vorenthalten blieb. Der Schmutz an ihren Händen, dem Mantel und den schönen scharlachroten Samtstrümpfen kümmerte sie nicht im Geringsten. Selbst ihr Gesicht war von Dreckspritzern übersät.«Jacomo!», rief sie auf einmal und zeigte auf ein Vogelnest, das zwanzig bis dreißig Doppelschritt über dem Boden zwischen den kahlen Ästen einer Pappel hing.«Sieh nur, unser Haus im Himmel! »Ihr ungetrübter, staunender Blick auf die Welt erweichte mein Herz. Im Stillen nahm ich mir vor, ihr eines Tages die Welt zu zeigen. Mir einen Auftrag in einer fremden Stadt zu besorgen. Mit ihr das Schloss von Mantua zu besichtigen, den Mailänder Dom, den herzoglichen Palast von Florenz, den Vatikan.
    Als ich Mariettas Lächeln, ihr Staunen und ihre glühende Wissbegier sah, verspürte auch ich nach langen Jahren wieder den Wunsch wegzugehen. Mich der Herausforderung des Unbekannten zu stellen - in fremde Länder zu reisen, an andere Horizonte zu stoßen. Meine Vorfahren gerieten bei Namen wie Smyrna, Bagdad, Calicut ins Schwärmen. Ich schwärmte als Junge von Michelangelo. Aber auch von seinen Jüngern: Sobald ich nur hörte, dass jemand bei ihm gelernt oder mit ihm gearbeitet hatte, fiel ich voller Hochachtung vor der Person auf die Knie. Von meinen ersten Ersparnissen machte ich mich auf und ging an Bord eines Schiffes, durchquerte die Ebene und arbeitete in Padua, Brescia und anderen kleinen Städten auf dem Festland, bis ich schließlich die Grenze der Republik überschritt - doch über Mantua hinaus habe ich es nie geschafft. Als aber - nach dem Wunder - in meiner neuen Werkstatt bei Madonna dell’Orto die Aufträge ausblieben, dachte ich tatsächlich darüber nach, alles hinzuwerfen. Venedig hatte keine Zukunft. Was war sie denn schon, meine heiß geliebte und so verhasste Stadt?
    Eine kleine, von viel größeren und mächtigeren Staaten umzingelte
Republik, auf deren Allianz oder zumindest Nachsicht sie nicht verzichten konnte, wodurch ihre Unabhängigkeit von Beginn an das Ergebnis eines Kompromisses, mithin eine Übereinkunft war. Es lebte sich durchaus gut hier, das bestätigte jeder, es war ein schönes, ja prachtvolles Land - vielleicht sogar einzigartig auf der Welt. Venedig blickte auf eine glorreiche Vergangenheit zurück und hatte den anderen Nationen gezeigt, was Politik und Diplomatie sind, was Handel, Industrie, Luxus und Mode bedeuten. Konnte sie aber den derzeitigen Konflikten und Umbrüchen standhalten? Sie war nicht mehr das, was sie einmal war. Die geschäftstüchtigen Kaufleute, die sie einst erstarken ließen, ruhten sich zufrieden auf ihren Reichtümern aus, und anstatt diese zu vermehren, taten sie alles, um sie zu behüten und zu beschützen, ja bloß nicht zu verlieren. Wie ein Holzwurm nagte sich die Korruption Stück für Stück in die Institutionen vor. Venedig war eine Republik, die von etwa zwanzig Familien regiert wurde, die sich immer wieder abwechselten - und es allesamt nur noch auf ihren persönlichen Gewinn und den Schutz ihrer Privilegien abgesehen hatten. Eine Republik, in der wenige extrem reich, gebildet und glücklich und viele, beinahe alle, arm, unwissend und jeglicher Möglichkeiten beraubt waren. Verblödet von den sonntäglichen Spielrunden, geschwächt von der unbeständigen Arbeitslage, getröstet durch die milde Auslegung der Gesetze und die barmherzige Gnade der Religion. Eine Republik, in der die Geburt anstelle von persönlichen Fähigkeiten über die Zukunft des Menschen entschied, in der sich die Alten den Jungen in den Weg stellten und ihnen reichlich Gelegenheit

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