Tintorettos Engel
mit der Zunge die Farbspritzer von meiner Wange leckte. Ich habe sie kein einziges Mal berührt. Damals hätte ich mich von ihr trennen müssen. Das habe ich nicht getan.
Nirgends fühlte ich mich wohler als in ihrer Anwesenheit. Kein anderer Mensch auf Erden, weder meine Amazone noch meine Frau, hat mir je nähergestanden. Ihr scharfer Verstand verzückte mich. Ihre Fortschritte rührten mich an, als wären es meine eigenen. Ich liebte einfach alles an ihr. Ihren Starrsinn, ihren eisernen
Willen, ihren Mut, ihre Unangepasstheit, ihre Liebenswürdigkeit, ihr Temperament. Und auch ihre zerbrechliche, unvollendete Schönheit. Ihr zögerliches Lächeln, ihre Angst zu scheitern, mich zu enttäuschen, das Versprechen nicht einzuhalten. Als sie ihr erstes Bild malte - ein einfaches Stillleben unseres mittäglichen Mahls: ein Pfirsich, irgendetwas Gebackenes, zwei Gläser und eine Scheibe Brot -, besaß sie nicht den Mut, es mir zu zeigen. Sie ließ es über Nacht an die Staffelei gelehnt in meinem Atelier stehen. Ich sollte es mir allein ansehen. Einen ganzen Morgen lang saß ich mit feuchten Augen davor. Niemals wäre ich mit zwölf Jahren zu so etwas fähig gewesen.
Marietta ist ein Wunder, pflegte ich zu sagen. Wer mir nicht glaubte, den lud ich ein vorbeizukommen. Ich zeigte ihm ihre ersten unbedarften Versuche, Dinge aus unserer Alltagswelt abzumalen - den Tisch mit Obstkorb, die Wiege ihres Bruders, das Atelierfenster, eine Ecke des Kamins -, und erwartete sein Urteil mit der gleichen Anspannung, wie ich es in meinem Fall erwartet hätte.«Was hat er gesagt?», drang Marietta danach jedes Mal in mich.«Dass du ein Monster bist», antwortete ich.«Ein Monster?», fragte sie enttäuscht. Dieser Ausdruck erinnerte sie an die getrockneten oder einbalsamierten, wie zu Stein erstarrten Tiere, die mein Schwiegervater in seiner Wunderkammer, seinem sogenannten«kleinen Museum sonderbarer Dinge»sammelte. Zweiköpfige Chamäleons. Gespaltene Schnäbel von angeblich tropischen Vögeln. Ein bedauerlicherweise von Grind befallenes Elchfell. Vierscherige Krabben aus der Neuen Welt. Buckelige Rückenschilde von Gürteltieren. Delphinbackenzähne. Marmorne Straußeneier. Krokodile mit Hörnern. Muscheln mit Fingern.«Ein Monster ist etwas Wundersames, Marietta», erklärte ich ihr.«Ein Wunder.»
Da sie mit offenen Augen bereits malen konnte, brachte ich ihr zu jener Zeit bei, mit geschlossenen Augen zu zeichnen. Sie sollte lernen, aus dem Gedächtnis zu malen. Formen, Gesten, Farben musste sie vor ihrem geistigen Auge erstehen lassen. Jeder Schüler
kann, ja muss lernen, von der Natur zu zeichnen, echte Wahrheit und Schönheit aber findet er allein in sich selbst. Denn Kunst ahmt die Natur nicht nach, sondern erschafft sie. Wahrheit und Schönheit liegen nicht in den Dingen, befinden sich nicht in der Welt, sondern in uns, in jenem verborgenen Teil, den man nie genau bestimmen können wird, den es jedoch zu befreien gilt. Malen, und ich meine wahrhaftig malen, nicht um einem Kunden zu gefallen oder sich den Lohn zu verdienen, ist wie träumen. In dieser Welt da draußen ist sich alles ähnlich, fast gleich, und doch wieder nicht. Allein hier, in diesem gleitenden Übergang, ruhen wahrhaftige Schönheit und vollkommene Wahrheit, liegt der Sinn allen Suchens und Darstellens. Erst wenn es einem gelingt, das Erinnerte zu träumen, hat man das Wesen des Erschaffens erkannt. Genau dann werden Stift, Pinsel, Augen, wird alles andere nebensächlich. Und um ihr zu zeigen, was ich damit meinte, blies ich die Kerzen aus und tauchte die Werkstatt in Dunkelheit. Leise hörte ich sie neben mir atmen. Die Spitze meiner Feder erzeugte ein kratzendes Geräusch.
Als ich ihr erlaubte, die Kerzen wieder anzuzünden, schaute ich überrascht auf eine Skizze unseres Hauses. Auch den Rio della Sensa hatte ich gemalt, auf dem ein Fischerkahn vorüberglitt. Daneben das unbebaute Land am Campo dei Mori mit meinen Kindern, die sich mit Erde bewarfen und zwischen Sträuchern und Marmorblöcken umherliefen, die der Bildhauer, der einst dort wohnte, halbfertig im Freien stehen gelassen hatte. Dann den Palazzo unseres Hauseigentümers und die an der Ecke eingefasste Statue des Händlers Rioba mit Turban und Metallnase, am Fenster trocknende Wäsche und meine Frau am Brunnen. Durch einen Häuserspalt konnte man die Fassade der Madonna dell’Orto erkennen. Wir beide gingen gerade über die Brücke nach Hause.«Siehst du», sagte ich zu ihr,«all das ist mir
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