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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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bekannt, wurden sie im Lazarett in Quarantäne gesteckt. Tagsüber ging alles seinen gewohnten Gang: im Arsenal, in den Fabriken, Färbereien, Läden, Schlachthäusern und auf den Märkten. Allmorgendlich gingen meine Kinder zur Schule. Den ausländischen Gesandten versicherte man, in Venedig sei alles unter Kontrolle. Die Kinder auf den Plätzen spielten mit ihren Kreiseln und die Falschspieler in den Tavernen mit ihren Würfeln; Kasinos und Bordelle waren zu
jeder Stunde gut besucht und die Sonntagspredigt voll wie eh und je. Nur am nächsten Morgen war wieder jemand verschwunden.
    Einige Ärzte rieten uns, zum Schutz vor Ansteckung ein in Essig getränktes Taschentuch vor den Mund zu halten; andere empfahlen, täglich in Malve, Oregano, Lorbeer und Kalmus zu baden; wiederum andere, jeden Morgen einen Sirup aus Wacholdersamen, Salbei, Zitronenschale, Majoran, Muskatnuss, Borretsch und Korallenpulver zu trinken. Ob wir daran glaubten oder nicht, kann ich nicht sagen. Aber lieber ein fragliches Heilmittel als das sichere Leid. Die Ärzte konnten die Ursache dieses namenlosen, seit Monaten in der Stadt grassierenden Übels nicht benennen: ob Gottes Wille, die unheilvolle Auswirkung einer ungünstigen Sternenkonstellation, die Dürre vom Vorjahr, bei der unsere Körpersäfte ausgetrocknet waren, verunreinigte Brunnen, die beim letzten Hochwasser mit Salzwasser überflutet worden waren, unsaubere Luft oder ein Insektenstich. Zu guter Letzt waren auch sie mit ihrer Weisheit am Ende und wiederholten das, was die Priester bereits pausenlos predigten: Betet.
    Betet, beichtet, übt Enthaltsamkeit, tut Buße, fastet, seid rein in Körper und Geist, und Gott wird euch eure Sünden vergeben - denn Gott, der allein Missetäter und Sünder straft, hat die Pest deswegen auf die Erde geschickt, weil wir ihn vernachlässigt und beleidigt haben und seinen Zorn und seine Rache verdienen. Sobald wir ihn wieder ehren und preisen, wird er uns von dem Übel befreien. Venedig hat durch Hoffart und Eitelkeit gesündigt. Venedig ist feist, selbstverliebt und zu glücklich gewesen - im Geiste des Herrn aber sind wir Staub. Ohne Vorankündigung kann Gott uns zunichte machen.
    Hoffart, Eitelkeit. Hatte ich auch gesündigt? In jenem sorgenvollen Herbst stellte ich mir jeden Tag, wenn ich heimkehrte, erneut diese Frage. Heim in den gotischen Palazzo an den Fondamenta dei Mori mit den zum Wasser gelegenen Fenstern, der endlich mir gehörte. Nun, fast mir. Jeden Monat zahlte ich die Raten
ab: Um die Schuld zu begleichen, würde ich zwanzig Jahre brauchen - ich durfte weder krank werden noch mich zur Ruhe setzen oder sterben. Meine schöne Familie. Meine kräftigen und gesunden Kinder, meine treue, junge Frau, unser gemeinsames Leben, das endlich begann, nach einem richtigen Leben auszusehen. Ich hatte viel - all das, was einem Mann erlaubt war - und doch so wenig. Ich verdrängte die Vorstellung, alles zu verlieren. Dennoch trieb mich tagtäglich die Angst um, irgendwann plötzlich aufzuwachen - und alles wäre nur ein Traum gewesen. Die Angst, dass mein Haus und meine Familie lediglich eine Wunschvorstellung waren. Ein auf dem Wasser flimmerndes falsches Venedig, das nicht existiert. Damals blieb ich hin und wieder mit Herzklopfen auf dem Ponte dei Mori stehen und schaute ängstlich auf das Haus und sein Spiegelbild im Wasser - dann fragte ich mich, ob wenigstens eins davon wirklich ist. Und von Dauer.
     
    Als der Frühling kam, schien alles glimpflich überstanden zu sein. In neun Monaten hatte es zwar annähernd viertausend Tote gegeben, aber das war weniger als in Lepanto an einem einzigen Tag. Die Zahl der Verstorbenen war zu niedrig, um von Epidemie sprechen zu können. Offenbar handelte es sich nur ansatzweise um die Pest - wenn überhaupt: schlechte Ernährung, nur eins der Übel im Elend. Überdies stammten die Toten meist aus dem gemeinen Volk. Das war eine milde Strafe. Uns war vergeben worden.
    Ein Senator verständigte mich. Noch hüllten sich die Herrschenden in Schweigen. Als bedeutete das Eingeständnis, dass die Seuche tatsächlich existiere, bereits Niederlage und Kapitulation. Sie wollten die Wirtschaft nicht schädigen. In meiner Stadt ist das Geld der wahre und alleinige Gott. Die Gesundheit des Staates war mehr wert als das Leben von ein paar tausend Menschen. Heute versuche ich mich davon zu überzeugen, dass unsere Staatsmänner in unserem Interesse gehandelt haben - zwar nicht dem unmittelbaren, aber dem zukünftigen, wer

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