Tintorettos Engel
meine Fragen nicht mehr antworten, werde meine Fehler nicht verbessern, nicht letzte Hand an mich legen, sondern immerdar ein unvollkommenes Werk bleiben. Zeit hatte ich. Dennoch ist alles so schnell gegangen. Noch gestern war ich ein Kind, habe mich selbst entdeckt und gelernt, der Welt eine Form zu geben, und schon ist alles vorbei. Erst im Alter begreift man, wie kurz das Leben ist.
Mein Zusammenbruch muss meine Familienmitglieder beunruhigt haben, denn bereits am frühen Morgen suchte mich der Arzt auf. Mit seinen widersprüchlichen Erläuterungen schaffte er es, meine Stimmung wieder zu heben. Fabio Glissenti ist ein Wissenschaftler der Thanatophilie: der Abneigung des Menschen gegen den Tod - oder vielmehr der Vorliebe des Menschen für das Leben. In der Tat tun sich Philosophen und Theologen leicht damit zu beweisen, dass der Tod unausweichlich, richtig und schön sei, doch niemand will sterben. Der Mann ist hingegen davon überzeugt, dass ihn die Wissenschaft eines Tages, wenn er die dunkle Macht des Aberglaubens besiegt hat, unsterblich machen kann. Derzeit hinke die Forschung noch hinterher, sodass man einzig auf einen erquicklichen Verfall im Alter hoffen könne. Für Tiere sei das Altwerden ein vollkommen hoffnungsloses Unterfangen: Sind sie zeugungs- und kampfunfähig, werden sie erlegt und aufgefressen oder einfach nur so getötet. Dank des Überflusses an Lebensmitteln sei die Anthropophagie in Europa jedoch nicht verbreitet.
Trotz oder gerade aufgrund seiner ziemlich makabren Vorstellungen ist er ein guter Arzt. Ich könnte ihn meinen Freund nennen, vorausgesetzt, man kann mit einem Arzt befreundet sein - kennt er doch unsere peinlichsten Nöte, unsere intimsten Schwächen.«Das Sprichwort rät: eine junge Frau und einen alten Arzt. Du
bist wohl gekommen, um mich umzubringen, Fabio!», sagte ich zu ihm und streckte die Hand aus, als wollte ich ihn von mir fernhalten. Glissenti ist gerade vierzig Jahre jung.«Überlass dem Tor die rückschrittliche Weisheit der Sprichwörter», entgegnete er mit einem Augenzwinkern,«und halte dir eine junge Frau und einen thanatophilen Arzt.»
Er wollte mich untersuchen - ich ließ ihn gewähren. Nach wie vor hätte ich nichts dagegen, wieder gesund zu werden. Zwar bin ich das Leben und einfach alles leid. Andererseits bin ich noch nicht fertig. Noch lausche ich gern dem Atem meiner Frau, wenn sie träumt, noch fasziniert mich der Geruch nach frisch gemahlenem Pfeffer, das ernste Gesicht meines Sohnes Dominico, das Klopfen des Regens an den Fensterscheiben. Nenne es Thanatophilie. Nenne es grenzenlose Liebe für das Leben. Ich bot ihm mein Handgelenk, die Brust, um meinen Herzschlag abzuhören, und eine Urinprobe, damit er sich davon überzeugen konnte, dass ich nicht am Steinleiden erkrankt war. Meine Träume konnte ich ihm nicht bieten - auch nicht die Gespenster, die mir in der Dunkelheit Gesellschaft leisten. Er ist ein Wissenschaftler. Er würde behaupten, dass ich wegen des Schlafmangels wirres Zeug redete. Ich rede aber kein wirres Zeug, Herr.
Die Untersuchung führte zu einem erbaulichen Ergebnis. Das Rumoren im Magen, das Erbrechen und die Appetitlosigkeit seien zwar besorgniserregend, er gehe aber davon aus, sie mit Wickeln, Brühe und Aderlass heilen zu können. Ich würde weder an Brustenge noch an Schwindsucht leiden. Auch nicht an Gicht oder Fleckfieber. Das Fieber, das mich schwächt, komme hingegen von der allgemeinen Erschöpfung. Ich bräuchte lediglich sehr viel Ruhe. Zerstreuung, Muße, Schlaf. Zur Behandlung bekam ich ein kräftiges Schlafmittel. Dreimal am Tag müsse ich ein Glas Wein trinken, der mit getrocknetem Mohn vermischt worden sei. Darüber hinaus müsse ich umgehend raus aus Venedig. Bald sei Juni, und da herrsche drückende Hitze. Überall seien schon
Unmengen von Mücken, und auch die Fliegen vermehrten sich zusehends. Mit der Hitze, den Insekten und der verunreinigten Luft erwachten die Krankheiten aus ihrer Lethargie. So bald wie möglich müsse ich hinaus aufs Land. In Carpenedo würde ich mich wieder erholen. Sobald der Sommer vorbei sei, könne ich wieder malen. Ich hätte kein tödliches Leiden.
Ich blieb den ganzen Tag über im Bett, fühlte mich schlapp und matt. Meine Frau begleitete den Arzt zur Tür und redete flüsternd auf ihn ein:«Fieber, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Kopfweh, alles unheilvolle Anzeichen …»Erleichtert hörte ich Glissenti deutlich antworten:«Seht zu, dass er schläft und das Schlafmittel
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