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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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weiß -, und suche nach
einer Rechtfertigung für das Geschehene. Wenn sie als Erstes die Stadt zugemacht hätten, wenn sie verhindert hätten, dass Waren ein- und ausgeführt wurden und Menschen sich frei bewegten, wenn sie die Stadt in Quarantäne gehalten, uns vor den anderen und uns selbst beschützt hätten, dann hätten die Türken unsere Schwäche ausgenutzt und uns angegriffen und vernichtet, dann hätten die Habsburger oder die Engländer den Handel an den Häfen im Orient an sich gerissen und uns endgültig verdrängt. Auf seinem Portrait hatte ich eine kleine Missbildung an der Hüfte des Senators verschleiert. Die Warnung war daher seine Belohnung.
    «Bringt Eure Kinder fort von hier», ermahnte er mich,«die Situation gerät außer Kontrolle. Die Stadt ist infiziert, niemand wird die Seuche eindämmen können. Wer nicht flieht, ist des Todes. Die Häuser der Adeligen und Bürger stehen seit Wochen leer. Jeder, der einen Sitz außerhalb der Stadt hat oder sich einen leisten kann, verlässt die Stadt. Die Behörden drohen zwar mit Bußgeldern und Strafen und ordnen die Rückkehr an, doch niemand befolgt die Anweisung. Wer in Venedig bleibt, ist verloren. Fahrt aufs Land, rettet Euch und Eure Familie.»
    «Ich danke Euch für Euren Rat, Senator», erwiderte ich,«aber ich gehe nicht. Venedig ist meine Stadt - hier bin ich geboren, für sie habe ich mich entschieden, ihr verdanke ich alles, was ich bin, ich kann sie nicht einfach im Stich lassen. Im Gegenteil, ich muss ihr meine Treue beweisen. Die Senatoren und Adeligen, die besser gestellten Großbürger der Stadt - wir also - müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Wir können nicht flüchten und nur unsere Haut retten. Unser Platz ist in der Mitte unseres Volkes - in Venedig. »Der Senator lächelte mich an, zuckte mit den Schultern und sagte, ich hätte zwar recht, aber die Welt betrete und verlasse man im Leben nur einmal. Er flüchtete mit Frau, Kindern, Angehörigen und Freunden in seine Villa an den Hängen von Bassano, wo er sich drei Monate lang bei Musik und Wein vergnügte und - wie ich später erfuhr - ebenfalls an der Pest verstarb.

    Wenige Tage nach dem Gespräch mit dem Senator suchte ich mir dennoch eine Bleibe, wo ich im Notfall meine Familie hinbringen konnte. Seit meiner letzten Reise in die Berge von Padua verspürte ich den Wunsch, ein Anwesen auf dem Festland zu besitzen. Nicht unbedingt eine Villa mit tempelartigem Frontgiebel, aber wenigstens ein kleines stattliches Landhaus - mit Weinberg und Laube. Mittlerweile hatten nicht nur Venedigs Patrizier ein Haus auf dem Land, sondern auch alle erfolgreichen Literaten und Künstler. Meine Mittel reichten nur zu einem einfachen Bauernhaus in Carpenedo in der Ebene von Mestre, umringt von acht Feldern, die von mürrischen Bauern beackert wurden. Da hätte ich uns alle in Sicherheit bringen können. Doch ich tat es nicht.
    Gern hätte ich behauptet, dass allein die hehren Beweggründe, die ich dem Senator dargelegt hatte, mich daran hinderten wegzugehen. Aber auch du, Herr, weißt, dass es nicht die einzigen waren. In jenen Tagen hatten mich die Bauleiter des Dogenpalastes mit der Restaurierung einiger beschädigter Gemälde in den Gemächern des Dogen beauftragt. In diesen Räumen hatten sämtliche Fürsten Venedigs gelebt, waren Entscheidungen über geheimste Staatsangelegenheiten getroffen worden. Und ich, der Sohn eines Tuchfärbers, durfte mich in diesen von Schätzen überladenen Zimmern aufhalten, unter vier Augen mit Seiner Durchlaucht Alvise Mocenigo, dem Mann, der gegen Sultan Selim II. in den Krieg gezogen war und später dem Papst, dem Kaiser und dem König von Spanien getrotzt und mit seinem muselmanischen Feind Frieden geschlossen hatte. Mocenigo, ein alter, einsamer Witwer, schaute mir mit blutunterlaufenen Augen beim Malen zu und sagte ächzend:«Wie ich Euch um Eure maßlose Energie beneide, Tintoretto. Sogar in dieser Katastrophe seid Ihr noch nützlich. Ich dagegen kann nichts tun, um meine Stadt zu retten. Diesen Krieg werde ich nicht gewinnen. Ich, der Doge des eindrucksvollsten militärischen Triumphs des Jahrhunderts, des unerlässlichen Friedens und des wiedererlangten Wohlstands,
ich werde von einem unsichtbaren Feind besiegt.»«Aber Eure Durchlaucht», widersprach ich heftig,«Venedig wird auch die Pest besiegen.»Finster entgegnete Mocenigo:«Aber da werde ich nicht mehr dabei sein. Die Gemächer hier verschönert Ihr für meinen Nachfolger.»Wir verstummten.

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