Tintorettos Engel
Schweigend betrachtete er die leuchtenden Farben und ich die ungeahnte Zerbrechlichkeit menschlicher Macht.
Obwohl wegen der Pest das Leben in der Stadt langsam erlahmte und nach Möglichkeit niemand mehr das Haus verließ, hatte ich den Auftrag angenommen und fand mich nun Woche für Woche pünktlich zur Arbeit ein. Mitten im heißesten Sommer war der Dogenpalast wie ausgestorben; laut hallten meine Schritte durch die Flure. Hartnäckig verteidigte ich meine persönliche Treue gegenüber Venedig, denn ich wollte die Regierung davon überzeugen, mir ein wichtiges Dekor im Dogenpalast anzuvertrauen. Eine Decke, ein ganzer Saal. Als Vorsichtsmaßnahme gegen die Pest forderte ich meine Frau lediglich auf, ihren Bekannten und Verwandten nicht mehr die Hand zu geben, sie nicht anzufassen oder zu küssen, sich in der Kirche ein in Wermut getränktes Tuch vor den Mund zu halten, Restgeld mit Essig oder Zitronensaft abzuwaschen, in jedem Zimmer Weihrauch zu verbrennen und die Kinder nicht aus dem Haus zu lassen. Mehr nicht.
Aber der Tod griff um sich. Es war genauso wie in der Offenbarung des Johannes. Da sah ich ein fahles Pferd; und der, der auf ihm saß, heißt Pest; und die Unterwelt zog hinter ihm her . Nachts glitten weiß getünchte Boote leise durch die Dunkelheit, um die Leichen abzuholen. Wie Baumstämme wurden sie übereinandergestapelt. Dann verbrannte man sie. Und ihre Sachen: Betten, Matratzen, Wäsche, Hausrat - alles, was die mit Pest Verseuchten berührt und was ihnen gehört hatte. Absurderweise aber wurden Schuhe und wertvolle Kleider nicht verbrannt - und auch keine Bilder. Als ob kostbare Dinge nicht zu den Trägern des Todes gehörten. Alles Übrige endete auf dem Scheiterhaufen. Abends sahen
wir auf den Inseln in der Lagune riesige Lagerfeuer brennen, von denen ein herber Aschegeruch in die Stadt herüberwehte. Über Stunden, Wochen und Monate färbten die Flammen den Himmel rot.
Weiß war dagegen die gehisste Flagge auf dem Schleppkahn, der die Kranken holen kam. Wenn das metallische Läuten der Glocke sein Nahen ankündigte, waren die Kanäle und Fondamenta augenblicklich menschenleer. Venedig war öd wie die Wüste. Doch wir waren da, und wie. Wie die Mäuse zogen wir uns in unsere vier Wände zurück, die wir nur zum Besorgen von Vorräten verließen: Niemand hatte mehr einen Angestellten. Ich persönlich hatte meinen treuen Schila weggeschickt, der sich zunächst nicht von der Stelle rührte. Ich nötigte ihn regelrecht abzureisen, indem ich ihm Geld in die Hand drückte, mit dem er seine Verwandten auf den weißen Bergen von Istrien erreichte. Der Zwerg hätte sich für uns hergegeben - doch ich traute ihm nicht, wie auch keinem anderen. Mit Fremden sprachen wir kein Wort mehr, mieden selbst unsere Freunde und Verwandten. Wenn wir ihnen begegneten, liefen wir, ohne stehen zu bleiben, stur an ihnen vorbei, als würden wir uns nicht kennen. Denn ein jeder konnte dem anderen den Tod bringen.
Alle Feste wurden abgesagt. Die fahrenden Schauspieltruppen unterbrachen ihre Vorstellungen, und es verschwanden auch die Zigeuner, die mit ihren Kindern auf dem Arm vor den Kirchen um Almosen bettelten und aus der Hand lasen. Noch immer zögerten die Behörden, das Grassieren der Seuche öffentlich zuzugeben, obwohl bereits alles zusammenbrach. Allmählich wurden die Lebensmittel knapp, denn aus dem Hinterland kam kein Nachschub mehr. Die Ausländer verließen die Stadt. Die Deutschen suchten jenseits der Grenzen Zuflucht oder verbarrikadierten sich in ihrem Handelshaus. Selbst die Juden im Ghetto stellten ihre Geschäfte ein. Unsere Galeeren lagen vor Anker. Die Waren in den Lagerhallen faulten vor sich hin. Aus Angst, dass sie vielleicht aus
dem Osten kam und verseucht war, kaufte niemand mehr Seide. Alles, was fremd war, wurde verdächtig. Aber das Fremde hatte sich in Venedig längst eingewöhnt und tiefe Wurzeln geschlagen. Das ganze Jahrhundert über war Venedig eine Arche Noah gewesen - Tor und Hafen für Verbannte, Flüchtlinge und Vertriebene jeglicher Herkunft. Jetzt war es das Tor zur Pest.
Es gab Tumulte und Aufstände. Verzweifelt suchte man den Schuldigen eines derartigen Verderbens: Hin und wieder meinte man, ihn in gewissen Seidenhändlern aus Cordoba oder Algier ausmachen zu können, die unsere Händler verdrängen wollten und deswegen unsere Schiffe verseucht hätten; oder in obdachlosen Vagabunden, von denen es in den letzten Jahren immer mehr in der Stadt gab und die sämtliche
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