Tintorettos Engel
einnimmt, nein, fürchtet Euch nicht, verehrte Faustina, es ist nicht die Pest.»
Die Pest würde also nicht in dieses Haus einkehren. Obschon sie den Weg kennt. Vor achtzehn Jahren kam sie ungebeten - wie ein Gespenst. Das Haus war gerade restauriert worden. Die Wände rochen sauber und frisch, die Holzdielen nach Wald. Nirgends eine Maus. Es war ein Haus ohne Erinnerungen. Wir waren glücklich. Die Pest traf uns hinterrücks und nichtsahnend.
Verstehst du, Herr, an jenem schrecklichen Karnevalssonntag habe ich Marietta nicht davongejagt. Im Gegenteil, ich band sie auf ewig an mich. Hin und wieder denke ich darüber nach, was aus ihr geworden wäre, wenn ich sie hätte gehen lassen. Aber das ist müßige Spekulation. Denn ich ließ sie nicht gehen. Als die letzten Klänge verhallt waren und die Kirche in grenzenloser Stille versank, fasste ich ihre Schultern und forderte sie auf, die Augen zu schließen und keine Fragen mehr zu stellen. Sie folgte mir die Stufen hinab und klammerte sich an mein Jäckchen, als bangte sie, mich zu verlieren. Sie glaubte noch immer, ich würde sie verstoßen. Dieses Lied - Leben meines Lebens - hatte sich derart in meinem Kopf festgesetzt, dass ich es nie wieder vergaß.
Ich zog sie über den Ponte del Cammello und entlang des zerfallenen
Mäuerchens am Campo dei Mori hinter mir her. Als wir unser Haus erreichten, blieb ich stehen und befahl ihr, die Schritte zu zählen. Ihre Nase war zwar geschwollen, doch sie blutete nicht mehr. Alle Wunden heilen. Die geronnenen Blutstropfen auf ihrem weißen Kleid hatten auf Brusthöhe die Form einer Blüte angenommen. Stolpernd tastete sich Marietta mit den Fingerspitzen an der Hauswand entlang.«Das ist Rioba», sagte sie, als sie zu der ihr bekannten Statue mit dem Turban kam, die wie eine Karyatide in die Hausecke eingefasst war.«Wir befinden uns auf den Fondemanta am Rio della Sensa.»Ich schubste sie ein Stück vorwärts.«Los, lauf, immer geradeaus, weiter, weiter, jetzt sind wir da», sagte ich.«Wie viele sind es?»«Nur dreißig Schritte», antwortete Marietta erstaunt. Es kam ihr wenig vor.
Sie öffnete die Augen. Keine Träne war mehr zu sehen. Wir standen vor einem mindestens zweihundert Jahre alten, kleineren Palazzo mit gotischer Loggia im ersten Geschoss und Schornsteinen, die wohldurchdacht wie Zinnen auf einem Kirchendach angeordnet waren, ferner mit einem kleinen, schmiedeeisernen Balkon und hohen, rechteckigen Fenstern zum Kanal. Seit Venedig Venedig ist, haben alle Venezianer und alle Fremden, die zum Arbeiten, Leben und Sterben hierherkamen, denselben Traum: in einem Haus am Wasser zu wohnen. Diejenigen, die etwas zählen, leben selbstverständlich schon seit ihrer Geburt am Wasser. Für alle anderen bedeutet der gelungene Versuch, im Laufe des Lebens ein solches Haus zu beziehen, dem Elend, der Namenlosigkeit des Pöbels und dem Joch der Schufterei entkommen zu sein: Reichtum, Wohlstand und Anerkennung erlangt zu haben, und Macht - jemand zu sein. Für einen Menschen war das der Gipfel schlechthin.
«Gefällt es dir, mein Funke?», fragte ich sie. Marietta sah sich prüfend die Ziegelsteine an, die unter dem angeschlagenen roten Putz hervorschauten, dann den länglichen Riss, der die Fassade verunstaltete, die schäbigen Marmorpfeiler, das Bäumchen, das
sich durch die losen Dachpfannen schlug, die klapprigen, aus den Angeln gehobenen Fensterläden und die Kleebüschel unter der Regenrinne.«Warum fragst du mich?», erkundigte sie sich vorsichtig. Dann leuchteten plötzlich ihre Augen auf, und sie rief:«Ist das mein Gefängnis? Willst du mich hier einsperren?»Siehst du, Herr, sie hatte recht, nur dass es mir damals noch nicht bewusst war.
«Wirst du es mieten?», wagte sie zu fragen.«Ach was, mieten», schnaubte ich.«Mietzinsen bedeuten Schulden, und ich will bei niemandem mehr in der Schuld stehen. Ich habe mich erlöst. Ich bin frei, mein Funke.»«Aber wir werden uns ein solches Haus nie leisten können, Jacomo», sagte Marietta.«Mehr als jetzt kannst du nicht arbeiten, du müsstest ganz Venedig samt aller Kirchen mit Gemälden ausstatten, du dürftest nachts nicht mehr schlafen und dich sonntags nicht mehr ausruhen, du müsstest bei deinem Schwager und deinem Onkel Geld borgen. Noch ehe du die erste Anzahlung geleistet hast, werden die Zinsen dich erdrosselt haben, du wirst vor Erschöpfung am Boden liegen.»«Hör mich an, Marietta», unterbrach ich sie.«Weder heute noch morgen, wahrscheinlich auch nicht
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