Tintorettos Engel
jenem Abend im Spätsommer lag eine drückende Stille über Venedig. Viele weinten. Es war, als wäre die Stadt gemeinsam mit dem hundertjährigen Symbol ihres Ruhmes abgetreten.
Andere würden kommen, um die Toten zu ersetzen, ihre leeren Häuser würden sich wieder bevölkern. Die Republik würde diese Geißel überleben. Sie war zwar auf Knien, doch sie würde wieder aufstehen, wie schon in früheren Zeiten. Wir ließen ein entsetzliches Jahrhundert hinter uns. Wir hatten Hungersnot und wirtschaftliche
Krisen erlitten, hatten Kriegsniederlagen und politische Isolation erlebt, sämtliche europäischen Staaten waren gegen uns, wir hatten Gebiete verloren, die Welt zog sich an den Grenzen unserer Lagune zusammen - doch wir waren noch unabhängig und frei, und wir lebten noch. Ja, wir hielten stand. Widerstand war für uns zur Regel, ja zur Gewohnheit geworden. Dieses Mal aber würde Venedig nicht wieder so werden wie vorher. Dessen war sich jeder von uns bewusst, und ein jeder trauerte darum. Und ich, ich habe auch um meinen Gegner Tizian getrauert.
Das Angebot gelangte über einen pockennarbigen Schergen zu mir. Seine Hochwürden Pomponio Vecellio - der von mir eine hohe Meinung habe und von meiner Liebe zu seinem Vater wisse - wünsche mir mitzuteilen, dass Plünderer sich anschickten, das mit wertvollen Kostbarkeiten bestückte Haus seines Vaters Tizian auszurauben. Inzwischen seien weder Wachen noch Freiwillige aus der Bevölkerung in der Lage, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Daher müssten die kostbaren Schönheiten in Sicherheit gebracht werden, die es im Hause seines Vaters zuhauf gebe. Ob ich ihm, Pomponio Vecellio, großzügigerweise helfen wolle? Wenn ja, so möge ich heute Nacht nach Biri kommen.
So suchte auch ich - wenngleich ich der Einzige bin, der es zugibt - Tizians Haus auf. Von meinem lag es zweihundert Ruderschläge oder eintausenddreihundertsechsunddreißig Schritte entfernt. Diese eintausenddreihundertsechsunddreißig Schritte waren weder ich noch er jemals gegangen. Die Tür an der Rückseite - zur Lagune gelegen, die Venedig vom Festland trennt und deren Horizont die spitzen Berge von Cadore säumen - stand sperrangelweit offen. Etliche mussten bereits hier gewesen sein, denn die von Federn aus Matratzen und Kissen übersäte Erde im Garten war völlig zertrampelt, und auch der eine oder andere Ast war schon abgebrochen. In einer Ecke stand eine mit einem Fransenteppich dürftig abgedeckte Orgel: Immer wenn ein Windstoß
in die Blei- und Zinnpfeifen hineinwehte, erzeugte sie eine geheimnisvolle Melodie. Ich starrte sie ein wenig stumpfsinnig an, als ein Lastenträger kam und sie auf das Boot am Ufer hievte.«Jacomo Robusti?», sprach mich ein Diener mit gedämpfter und wie eingeschworener Stimme an.«Seine Hochwürden erwarten Euch.»
Im großen Atelier des Maestros schien ein Sturm gewütet zu haben. Jemand musste es mit blinder Gier fieberhaft durchwühlt haben. Stapel von Rahmen türmten sich an den Wänden, Staffeleien und ausgetrocknete Pinsel lagen kreuz und quer auf dem Boden. Farbspritzer an den Fensterscheiben, purpurrote Flecken an den Wänden, goldenes Pulver auf der Erde. Auf den Tischen, völlig durcheinandergeraten, Zeichnungen, Entwürfe, Skizzen.«Ein nicht wiedergutzumachender Verlust», sagte ich verlegen.«Wir sind alle Waisenkinder», entgegnete Pomponio seelenruhig. Als ich ihm die Hand reichen wollte, zog er seine zurück. Bis ich Tizians Atelier wieder verließ, nahm er kein einziges Mal das in Essig getränkte Taschentuch von der Nase.
«Ich danke Euch, dass Ihr zu dieser barbarischen Stunde gekommen seid», sagte er mit teilnahmslosem Lächeln.«Ich wusste, dass ich auf Euch zählen kann. Mich drängt es, zum Ende zu kommen, so bald es geht, will ich fort von hier. Es ist gefährlich, in Venedig zu bleiben.»«Ihr braucht mir nichts zu erklären», fiel ich ihm ins Wort und deutete auf meine Börse, damit er sah, dass ich Geld mitgebracht hatte. Ich wußte, Pomponio hatte keine Angst vor der Ansteckungsgefahr oder vor Dieben, sondern vor dem Testament seines Vaters. Dieser hatte ihn fünfzig Jahre lang mit unerbittlicher Verachtung gedemütigt und zugrundegerichtet und hätte ihm niemals sein Erbe hinterlassen. Somit hätten die Diebe tatsächlich ruhig in das Haus eindringen können.«Nehmt, was Euch beliebt», forderte mich Pomponio auf.«Leider ist es nicht viel, mein Vater arbeitete nie zum eigenen Vergnügen, lieber hat er alles zu Geld
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