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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Beulen hervortraten. Unter den Achseln, an den Drüsen in der unteren Halsgegend und in den Leisten. Meine Hände kannten weder Scheu noch Scham. Ich war ihr Vater und ihr Arzt. Es gab nichts anderes als das Holzlager, das Prasseln des Regens, die schaurige Stille in meinem Haus und meiner ermordeten Stadt. Zuweilen hatte ich den Eindruck, als wären wir die beiden letzten Lebewesen der Erde - nach einer Katastrophe, die uns, warum auch immer, verschont hatte. Ich kann nicht sagen, wie lang es gedauert hat, wie viele Tage, Stunden - oder Augenblicke. Es war wie im Traum. Auch Marietta glaube ich manchmal nur erträumt zu haben. Und dass sie nie bei mir gewesen ist, weder in diesem Raum, wo ich noch immer auf sie warte, noch in dem Holzlager oder anderswo.
    Marietta wollte sich jedes Urteil aus meinem Mund anhören. Selbst wenn ich sie untersuchte, wich sie nicht meinen Blicken aus. Dass sie stets mutig durchs Leben gegangen ist, erfüllt mich mit Stolz. Ihr Atem roch nach Melisse und Rosen, das Lager nach Harz und Aloe. Von dem Duft war ich wie benebelt, der Rauch der Fackeln machte mich trunken und trug mich weit fort, während ich mit einem Taschentuch, das in Essig, Kampfer und Theriak eingelegt war, ihre Schläfen, Handgelenke und Lippen erfrischte. Wenn ich heute an die schrecklichen Momente in dem düsteren Holzlager zurückdenke, als wir kaum mehr wussten, ob wir noch lebten oder schon tot waren, in eine Zeit entrückt, die nicht von dieser Welt war, zutiefst verzweifelt und doch unendlich frei, dann
entdecke ich darin eine Zärtlichkeit, die ich nie wieder erlebte - und Herr, ich bitte dich, vergib mir.
    Am Morgen des dritten - oder vierten - Tages hatte ich das Gefühl, in der Hautfalte ihrer Hüftbeuge am Rand des Oberschenkels, genau da, wo der Flaum ihrer Scham begann, ein Knötchen unter dem Finger zu spüren - nicht größer als eine Linse. Marietta musste das Entsetzen in meinen Augen gesehen haben, denn mit ernster Miene sagte sie:«Das soll wohl mein Schicksal sein, Jacomo. Lass mich nur bitte nicht allein sterben, ich habe Angst, an einen Ort zu kommen, wo du nicht bist.»Kurz darauf fügte sie mit ihrem typischen verschmitzten Grinsen, das ich so lieb gewonnen hatte, hinzu:«Wenn ich ehrlich sein soll, Papa, will ich lieber nicht sterben. Ich bin viel zu jung. Ich habe noch so viel zu erledigen. Das Werk, das mir Ruhm und Ehre einbringen wird, habe ich noch gar nicht gemalt, ich habe keine einzige andere Stadt gesehen, ich habe noch nie Liebe gemacht.»
    «Nicht?», entfuhr es mir.«Nein, Jacomo, ich weiß nicht, was die Liebe ist», flüsterte sie.«Das wirst du noch erfahren, mein Funke, das verspreche ich dir.»Ich betastete weiter ihre Haut und drückte mit dem Finger auf die Linse. Im Stillen dachte ich: Ich werde nicht zusehen, wie die Krankheit ihre Schönheit zerstört. Ich werde nicht zulassen, dass sie ein dreckiger Leichenzwicker in seinem Kahn fortschafft. Eher bringe ich sie um. Und das hätte ich wahrhaftig getan, Herr. Wenn die Linse zu einer Eiterblase auf ihrem Körper geworden wäre, dann hätte ich ihr die Kehle durchgeschnitten.
    An jenem Tag - während Faustina leise für ihre Töchter betete, von denen sie noch nichts gehört hatte - hockte ich vor dem Kamin und dachte über die mir noch verbleibenden Möglichkeiten nach. Die Heilmittel der Ärzte und Arzneihändler halfen nicht. Blieben noch die Rezepturen der Quacksalber und Kräuterhexen: Marietta erst für zwölf Stunden in salziges Meerwasser und dann sechzehn Stunden lang in ein Schlammbad tauchen. Sie nackt bis zum Hals
vergraben und dort vierundzwanzig Stunden in vollstem Vertrauen auf die heilenden Säfte der Erde - unser aller Mutter - stecken lassen. Mir Skorpionöl beschaffen, mit Tonheilerde, Hirschhornpulver, Wurzelschleim, Quittenäpfeln, Elfenbeinpulver, Ingwer und Otterfleisch vermischen und ihr zusammen mit ihrem Menstruationsblut einflößen. Oder mir Maulwurfsgalle und Ochsentalg besorgen und ihr zusammen mit Schweinsgeifer und geschliffenem Diamantenpulver zu trinken geben - dabei musste man sehr auf die Menge achtgeben, da von einer zu hohen Dosis ihre Eingeweide zerreißen und platzen würden, während sie bei einer wohldosierten Menge das Übel aus dem Darm ausscheiden würde. Oder sie morgens zwei Fingerbreit ihres Urins und abends Gerstenwasser trinken lassen, dazu ein in Essig getränktes Stück Brot und sieben Rautensprossen; eine glühend heiße Nadel in den Abszess stecken und ihn mit Pfeffer

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