Tintorettos Engel
entkeimen, bis er vernarbt.
Peinlich genau wog ich die Möglichkeiten ab, an diese Mittelchen heranzukommen, was immer sie kosteten. Ich hätte den Schmuck meiner Frau verkauft, meine geliebte Sammlung - die Abgüsse von Michelangelo, das Gemälde von Tizian, die Statuetten von Giambologna, die Skizzen von Vittoria und Sansovino, meinen fliegenden Engel, die Rüstungen aus der Zeit von Marco Polo, die griechischen Ikonen, die Bilder von Bassano, Veronese und Schiavone, meine Bilder, das Haus auf dem Land, ja mein eigenes Haus. Heute weiß ich, dass man diese Mittel für Humbug und sogar Verbrechen hält, aber ich hatte nichts anderes mehr. Wenn die Weisheit am Ende, die Wissenschaft machtlos und alles vergebens ist, was bleibt da noch? Ich erinnere mich nicht mehr, warum ich davon abließ. Vielleicht blieb keine Zeit mehr, sie auszuprobieren.
Verzweifelt suchte ich Zuflucht in Madonna dell’Orto. Auf dem Weg zur Kirche begegnete mir niemand - weder auf dem Kanal noch auf dem Platz oder der Brücke. Wo sich sonst Frauen, Kinder, Adelige, gemeines Volk und Fremde tummelten, bewegte sich an
den Mauern und auf dem Pflaster nur noch mein Schatten. Das einzige Geräusch, das mir folgte, waren meine eigenen Schritte. Nicht das leiseste Stimmchen war zu hören. Die Boote lagen regungslos auf dem Kanal und ertrugen geduldig den erbarmungslos auf sie niederprasselnden Regen. Ein Rudel umherstreunender, gieriger Hunde, die der Ausrottung im Sommer entkommen waren, stritt sich heftig mit einem aus irgendeinem Stall entlaufenen Schwein um einen faulen Apfel. Ausgehungert wie sie waren, hatten sie nicht einmal mehr die Kraft zu heulen. Keuchend fletschten sie ihre Zähne. Selbst die Amseln und Möwen waren nicht mehr da. Mein Venedig schien ausgestorben zu sein. Und in einem gewissen Sinn war es das auch. Nach und nach verlor es alle seine Bewohner. An jenem Tag fehlten beim Appell bereits um die fünfzigtausend. Ich verscheuchte den Gedanken an dieses Heer von Opfern, das eine ganze Stadt hätte bevölkern können. Ich dachte an meine private Stadt. Acht Leben wollte ich retten. Und wenn nicht acht, dann wenigstens eins.
Ich kniete mich vor die große Kirchenorgel. Keiner spielte, denn auch der Organist von Madonna dell’Orto war der Pest zum Opfer gefallen. Ich schaute mein Gemälde an. Zwanzig Jahre waren vergangen, seitdem ich es fertiggestellt hatte. In jenen weit zurückliegenden Tagen konnte ich es nicht ahnen, aber inzwischen wusste ich, dass es den glücklichsten Moment meines Lebens widerspiegelte - es war die Morgenröte meiner Hoffnungen, die Ankündigung eines Wunders, von dem ich geträumt hatte und das sich nun erfüllen sollte. Da rief ich zu dir.
Bis zu jenem Zeitpunkt war ich kein guter Christ gewesen. Nur so gut wie viele andere, Herr. Ich ging in deine Tempel, hörte mir die Homelien deiner Pastoren an, sprach Gebete, nahm an Prozessionen teil, betete für die Toten und spendete den Armen und Bedürftigen Almosen. Immer seltener ging ich zur Messe, außer an Ostern oder Weihnachten blieb mir kaum Zeit dafür; an meine letzte Beichte konnte ich mich nicht erinnern. Ich gehorchte
durchaus deinen Geboten. Allerdings nur denen, die mich nichts kosteten. Kam ich an Heiligenfiguren vorbei, neigte ich den Kopf. Freitags und zur Passionszeit fastete ich, die Feiertage waren mir heilig, und sonntags arbeitete ich nur wenig - überhaupt nicht zu arbeiten gelang mir nicht. Die anderen Gebote ließ ich außer Acht. Oder ich verletzte sie. Keine Sünde habe ich ausgelassen. Mein Glaube war ein Anzug, den ich trug, ohne mich jemals bewusst für ihn entschieden zu haben. Man kommt zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort auf die Welt und saugt die Vorstellungen und Gewohnheiten mit der lebensnotwendigen Luft ein. Man stellt sie nicht infrage. In gewisser Weise erträgt man sie, akzeptiert sie zumindest.
Ich stand im Ruf, der beste Wunder- und Mysterienmaler zu sein. Und meine Kritiker hatten recht, obwohl das, was für mich zählte, weder das Wunder noch das Mysterium, sondern deren Erzählung war - die Erfindung ihrer Darstellungsweisen. Die Idee, dass ein Heiliger durch die Luft schwebte oder flog, interessierte mich mehr als die Tat, die er vollbracht oder heraufbeschworen hat - woran ich möglicherweise nicht einmal glaubte. Nie hatten mich deine Worte erreicht. Aber auch ich hatte mich nie an dich gewandt.
Wenn du sie retten würdest, versprach ich dir, auf sie zu verzichten. Sie von mir fernzuhalten
Weitere Kostenlose Bücher