Tintorettos Engel
geworfen hatte und am nächsten Morgen von Dornen aufgespießt aufgefunden wurde. Andere verfluchten ihre Mutter, ihre Söhne oder Gott selbst, noch andere sangen das Ave Maria : Jeder starb und litt so, wie er gelebt hatte. Und niemand war bisher zurückgekommen.
Mit Mullmasken vor dem Gesicht brachten Marietta und Zuane ihre Schwestern ans Ufer. Die Leichenzwicker hielten sie auf Distanz. Da schließlich auch sie hätten verseucht sein können, wollten sie unter keinen Umständen mit ihnen in Berührung kommen. Perina bekreuzigte sich, stieg auf den weißen Kahn und winkte uns mit Ottavias Händchen zum Abschied zu. Der Mut meiner Tochter erfüllte mich mit Stolz und qualvoller Scham. Die Pizzicamorti befahlen Marietta und Zuane, sofort wieder hineinzugehen, und schubsten sie mit ihren Rudern Richtung Haustür. Immer
wieder sehe ich meine Kinder am Ufer stehen, die Älteste und der Hübscheste - Marietta mit vom Wind aufgeblähtem Rock, die Ottavia einen Handkuss zuwarf, und der schlanke, blonde Zuane, der sich die Augen rieb, weil ihm die Tränen kamen, obwohl er bereits neun Jahre alt war und Haltung wahren wollte. Doch er hatte ein zu weiches Herz: Marietta nahm ihn an der Hand und brachte ihn ins Haus. Und nun haben mich meine zartesten Kinder alle beide verlassen - Marietta liegt in meiner Kirche unter der Orgel und Zuane irgendwo in einem fremden Land, ohne Grabstein und ohne dass sich jemand an seinen Namen erinnert.
Drei Tage später kam die Pest erneut, um sich meinen Funken zu holen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und stand in der Blüte ihres Lebens. Ihre Zukunft war eine saftige, reife Frucht, die sie nur noch zu pflücken brauchte. Es war Ende September. Der frühe Herbst hatte die Seuche nicht zu zerstören vermocht, sie wütete weiter. Da sich der Himmel zuzog und schon der erste Donner über Murano den unmittelbar bevorstehenden Regenguss ankündigte, nahm Marietta auf dem Altan die Wäsche von der Trockenleine. Plötzlich wich alle Farbe aus ihrem Gesicht, sie musste sich am Geländer abstützen und wurde ohnmächtig. Dominico rannte mich holen. Niedergeschlagen und kraftlos hielten wir uns in den Armen.
Zu lange waren wir in der Stadt geblieben, und ich war schuld. Ich hatte es riskiert, meine Familie auf dem Altar einer eifersüchtigen, herzlosen Göttin - entweder Venedig oder die Malerei - zu opfern. Nun drohte uns, nacheinander krank zu werden: Wir würden grausame Schmerzen erleiden, würden von brutalen Ärzten, die unfähig waren, uns zu heilen, durchsucht, betastet und gebrandmarkt werden, unsere Körper würden mit Messern zerschnitten und unsere Wunden mit glühendem Eisen und Kupfersulfat verätzt werden. Isoliert, festgehalten, gedemütigt. Wir würden die Beleidigungen der Pizzicamorti und die Kränkung
durch ihre bloße körperliche Anwesenheit über uns ergehen lassen müssen, zu viert in einem Bett auf verdreckten Matratzen dahinsiechen, zwischen den Schreien der Kranken, die keiner behandelte, und den Flüchen der Prostituierten, die auf Anordnung der Behörden gezwungen wurden, ihnen beizustehen.
Als wir auf dem Altan eintrafen, war Marietta bereits aufgestanden und hoch auf die Balken geklettert, wo Dominico und ich nicht an sie herankamen. Sie brüllte, uns bloß von ihr fernzuhalten, und drohte, ansonsten hinunterzuspringen und unten auf dem Ufer zu zerschmettern. Der Mörder dessen sein zu können, den wir lieben, ist eine fürchterliche Erkenntnis. Sie forderte uns auf, nach dem weißen Kahn zu schicken - sie wolle auf der Stelle ins Lazarett. Ihre grelle Stimme hallte durch den ganzen Hof, breitete sich über dem Fluss aus und konnte in fremde Ohren gelangen.«Sei still», brüllte ich zurück,«in Gottes Namen sei still.»Als ich sie am Fuß packte und wieder losließ, wollte sie tatsächlich ins Leere springen, aber ich war schneller, zog sie herunter, umklammerte ihre Hüfte und versuchte meine Hand auf ihren Mund zu drücken. Wie eine Katze wand sich Marietta aus meiner Umarmung. Aus Angst, mich anzustecken, hatte sie nicht zugebissen.«Lass mich gehen, Jacomo», rief sie,«lass mich!»
Niemals hätte ich sie gelassen, Herr. Eher wäre ich mit ihr in den Tod gegangen. Ich schleifte sie die Treppen hinunter, durch den Vorratsraum und bis ins Holzlager, wo ich sie einschloss und die Tür mit einem Balken verrammelte, den die Kinder keinen Fingerbreit verschieben konnten. Ich gab ihr Rosen- und Melisseblätter zu essen und versuchte, scheinbar gelassen, sie zu
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