Tintorettos Engel
kleine Junge lernte laufen. Er hatte sich das viel zu große Hemd abgestreift und war barfuß. Er war so, wie du ihn erschaffen hast. Nackt und unschuldig. Auf allen vieren kroch
er über die Wiese, kippte um, machte eine Rolle, streichelte die Federn eines Kükens, versuchte es einzufangen, was ihm nicht gelang, kreischte und stand wieder auf, machte einen unsicheren Schritt, strauchelte und plumpste wieder auf die Erde. Ich schaute ihm zu. Bangte, er könne sich wehtun. Das Kind trug meinen Namen. Und ich liebte es mehr als mich selbst. Es war elf Monate alt. Hatte erst sechs Zähnchen und konnte gerade nach seiner Mutter rufen. Ein so zartes Geschöpf, Herr.
Ich stand auf und ging hinüber zur Eiche. Dann nahm ich ein Küken in die Hand und hielt es ihm entgegen.«Komm her», forderte ich ihn auf. Jacometto schaute mich mit jenem vertrauensseligen Blick an, den nur Kinder haben. Sie vertrauen uns so blind, wie wir dir vertrauen. Er kratzte sich am Kopf. Wie ich hatte er rotes, lockiges Haar. Er schaute erst die Eiche, dann das Küken an - ein wonnevolles Lächeln erhellte sein Gesicht und strahlte mich an. Dann lief er los. Ein Schritt nach dem anderen. Er wankte zwar, fiel aber nicht hin. Wenngleich unsicher, schaffte er es, fest auf seinen kurzen Beinen stehen zu bleiben. Mit ausgestreckten Ärmchen lief er auf mich zu. Ich wartete am anderen Ende der Wiese auf ihn. Sie musste ihm riesig vorgekommen sein. Aus den Augen eines Kindes erscheint die Welt unendlich groß und weit. Dabei ist sie nichts weiter als eine verdorbene Apfelsine, die von innen heraus fault. Sie ist ein winziges Steinchen im Universum, und keine der Entdeckungsreisen unserer Seefahrer kann es mit dem Risiko der Reise eines Kindes aufnehmen. Lachend kam Jacometto auf mich zu. Er arbeitete sich vorwärts - Schritt für Schritt, unsicher, aber glücklich mit der Welt und mit sich.
Noch immer warte ich auf ihn.
Mir graut es, an diesen Tag zurückzudenken. Herr, setze meinem Leben jetzt ein Ende.
22. Mai 1594
Sechster Fiebertag
Das Bett zu verlassen war absoluter Irrsinn, und alle meinen, dass mir diese anstrengende Überfahrt nun zum Verhängnis wird. Aber ich bin nie weise gewesen. Schon gar nicht im Alter. Ich zähle nicht zu diesen Greisen, die wie zahme Hunde die Zuneigung der anderen auf sich ziehen. Mein guter Dominico flehte mich an, mich zu schonen - er hätte sich schon um die Ablieferung der Grablegung gekümmert -, doch niemand hat je für mich zu entscheiden vermocht. Das war schon immer so gewesen.
Als wäre ich eine Skulptur aus Glas, hoben mich meine Söhne mit übertriebener Behutsamkeit auf die Gondel. Es stimmt, meine Knochen sind zerbrechlich, und jeder Stoß verursacht einen weiteren Sprung. Vielleicht genügt ja bereits der kleinste Windhauch, und sie zerfallen in Splitter. Diese haben jedoch scharfe Kanten. Das Bild - in Laken gehüllt im Holzkäfig - hatten wir von den Burschen auf einen Ehrenplatz unter die mit schwarzem Stoff bezogene, überdachte Kabine stellen lassen. Auf den Kissen ausgebreitet, sah es aus wie ein Sarg. Es war ein schwüler, diesiger Morgen, als wir auf dem spiegelglatten Wasser dahinglitten.
Als wir endlich auf der Insel San Giorgio Maggiore ankamen, verweigerte der Gondoliere den vereinbarten Lohn.«Maestro», hob er an,«nie hätte ich gedacht, eines Tages die Ehre zu haben, Euch mit meiner alten Nussschale befördern zu dürfen.»Dann machte er Anstalten, meine rechte Hand zu küssen. Verärgert zog ich sie zurück und sagte, er solle doch die Hand des Bischofs küssen gehen. Völlig aufgewühlt begann er stotternd zu erzählen, dass er während der langen Pestplage, als sein Körper von Beulen übersät
war und seine Exkremente von Würmern wimmelten, eines Tages mit dem Schleppkahn fortgebracht und ins alte Lazarett gesperrt worden sei. Wochenlang habe er trostlos neben Hunderten von hoffnungslosen Menschen auf Strohsäcken und auf der bloßen Erde gelegen. Er habe jedoch überlebt. Als er wieder gesund war, sei er in die Kirche San Rocco zur Verehrung der Reliquien gepilgert. Und während er dem heiligen Rochus dankte, ihm das Leben gerettet zu haben, sei ihm das Gemälde mit dem Heiligen im Krankensaal aufgefallen, der tatsächlich genauso aussehe wie der, in dem er mit dem Tod gerungen habe. Er habe sich gewundert, dass ein solch gewöhnlicher, gar abstoßender Gegenstand Stoff für ein Kunstwerk darstellen kann. Er habe sich nicht von dem Bild lösen können. Seitdem liege es ihm am
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