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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Dass meine Stadt leer war. Dass ich in dieser absurden Stille hören konnte, wie ein Spatz auf dem gegenüberliegenden Häuserdach umhertrippelte. Schließlich kam ich völlig entkräftet und zitternd vor Kälte in San Nicolò an.
    Das Viertel war bewohnt, denn die armen Fischer konnten es sich nicht leisten wegzugehen. Auf den Brücken und an den Ufern lagen abgewetzte Möbel, die baufälligen Holzhütten waren mit nicht minder morschen Holzbalken verrammelt, überall weiße Kreuze an den Türen, ausgemergelte Gesichter hinter den Fensterscheiben, weiße Boote auf jedem Kanal. Bei Insegna della Luna lehnte sich eine Frau heraus. Da ihr Mann gestorben war, weigerte sie sich, die Tür zu öffnen. Ich flehte sie an, mir zu helfen, meine Tochter zu heilen. Was sollte ich sonst tun? Sie rief mir zu, ihr Vitriol mit heißer Brühe zu geben, davon würde sie dermaßen brechen und kacken, dass sie am Ende auch die Pestwürmer los sei. Sie war derart raffgierig und vulgär, dass ich an ihr Heilmittel nicht glaubte. Ich lief weg. Ich wusste nicht, wohin, als ich auf einmal einen Lichtstreifen zwischen hohen, braunen Mauern sah. Es war ein Kanal. Ein Totengräber, der gerade eine verkohlte Leiche auf seinen Kahn hievte - jemand hatte mit reichlich Ungeschick versucht, seine Pestbeulen zu verätzen -, schickte mich zum Arzneihändler Angelo Raffaele. Diese blasierte Luthersau, dieser alte Widerling habe Geld zuhauf gemacht - da das ganze Viertel vom Unheil befallen sei, sich dieser verdammte Teufel aber nicht anzustecken scheine, kenne er wahrscheinlich tatsächlich ein gutes Gegenmittel.
    Der Alte öffnete mir nicht die Tür. Ich stand im strömenden Regen auf dem Vorplatz, er in seinem Laden. Ich erkannte lediglich seinen Schatten, der an den Wandregalen vorbeihuschte und die Keramikgefäße verdeckte. Für einen kurzen Moment glaubte ich, tatsächlich den Teufel vor mir zu sehen. Aber wen störte es?
Wenn er mir wirklich meine Seele abkaufen wollte, hätte ich sie ihm sogar geschenkt, Hauptsache Marietta war gerettet. Als er die Tür einen Spaltbreit öffnete, warf ich ihm die Münzen hinein. Er schrieb mir das Rezept auf ein Stück Papier und warf die Kräutersäckchen aus dem Fenster.
    Mit dem Kahn der Pizzicamorti überquerte ich in San Simeone den Canal Grande - im Gegensatz zum Brotbäcker verlangten sie keinen Obolus. Im Dunkel der Nacht kehrte ich nach Hause zurück. In den vier Ecken des Holzlagers entzündete ich Duftfackeln, in denen Pinienharz, Aloe, Kolophonium und Myrrhe verbrannte. Der Duft war so angenehm süßlich, dass sich noch heute etwas in mir regt, wenn ich ihn rieche. Leichenblass lag Marietta auf einem Strohsack. Da sie auf meine Aufforderung, sich auszuziehen, nicht reagierte, hakte ich ihr Leibchen auf - und entblößte sie.«Jacomo!?», rief sie verstört. Doch sie musste mir vertrauen, denn ich brauchte ihre Eingeweide - und ihr Herz.
    Zu viele Jahre sind seitdem vergangen, und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, welche Kräuter ich für den Brei aus Leinsamen in der Küche zerstoßen, aufgeweicht und gekocht habe, der sie ins Schwitzen bringen sollte und den ich ihr auf den Bauch strich, oder an die Salbe, mit der ich ihr Herz einrieb. Ich weiß nur noch, dass diese nach Zitrone und Safran roch und sich kalt anfühlte. Marietta war dagegen ganz warm. Ihre Haut brannte. Ich massierte so lange ihre Herzgegend, bis der letzte Tropfen Salbe in ihre Poren eingedrungen war. Ihr Herz raste - meines auch. Dann legte ich eine in reines Arsen getunkte und in ein Taschentuch eingewickelte Oblate genau dort auf ihre Brust, wo ich ihren Herzschlag am stärksten spürte, und befahl ihr, sich nicht zu rühren, bis ich wieder da sei. Da fragte sie mich:«Warum tust du das alles für mich, Jacomo?»
    Alle drei bis vier Stunden ging ich in das Holzlager und brachte ihr einen Krug Wasser, den sie mir nur leer wieder zurückgeben durfte. Wenn Marietta mich von sich fernzuhalten suchte, sagte
ich:«Ich habe keine Angst vor dir, Leben meines Lebens, meine Seele.»Dann beugte ich mich zu ihr hinunter, um sie erneut zu massieren und den Krankheitsverlauf im Auge zu behalten. Nachdem ich ihr beim Ausziehen der Bluse geholfen hatte, besah ich sie prüfend und suchte sie nach den kleinsten Schatten blauer Flecken ab, die auf die Pest hindeuten könnten. Doch die einzigen Punkte auf der Haut meiner zweiundzwanzigjährigen Tochter waren Sommersprossen. Also hob ich ihren Rock an. Ich wusste genau, an welchen Stellen die

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