Tintorettos Engel
beruhigen: Ich würde ihr umgehend ein Heilmittel besorgen.«Du darfst nicht raus, Papa», entgegnete sie,«wir sind gezwungen, im Haus zu bleiben. Wer dagegen verstößt, wird zum Tode verurteilt.»«Meinst du, ein weißes Kreuz kann Jacomo Robusti aufhalten, mein Funke ?»
Ich rannte zu Piero alla Gatta, dem nächstgelegenen Arzneihändler
um die Ecke - aber der Laden war zu. Also überquerte ich bei Ormesini den Kanal, doch auch der Apotheker von San Marcilian hatte Venedig verlassen. Aber schließlich gab es noch meinen Schwager Piero. Ich musste nur bis zu seinem Haus hinter der Kirche San Vio gelangen. Fast einhundert Jahre lang - bis die Episcopi in der sozialen Hierarchie der Republik aufgestiegen waren und in den Notarsstand erhoben wurden - hatte die Familie meiner Frau eine Apotheke geführt. Sie kannten alle Apotheker Venedigs, gewiss würde einer meinem Schwager ein Gegenmittel besorgen.
Als ich zum Canal Grande kam, wurde ich von Wachmännern angehalten. Niemand dürfe den Stadtteil Cannaregio betreten - wie im Übrigen auch Castello und San Marco. Ob ich denn das nicht wüsste?«Hau ab, du leichtsinniger Tor», schrien sie mich an und drängten mich mit ihren Schwertern zurück.«Ich muss vorbei», rief ich zurück.«Wenn du nicht verschwindest», brüllten sie,«nehmen wir dich fest.»
Hundert Schritte weiter entlud gerade ein Brotbäcker auf dem Rio San Felice sein Boot. Er besaß eine Genehmigung, Cannaregio mit Brot zu versorgen, durfte sich also frei bewegen.«Bring mich nach San Vio», forderte ich ihn auf, doch er erwiderte, es sei verboten, gegen die Anordnungen der Behörden zu verstoßen.«Selbst wenn es unser Vater im Himmel angeordnet hätte, würde ich dagegen verstoßen», entgegnete ich.«Und wie willst du dahin kommen, im Flug?», fragte er höhnisch. Ich kehrte ihm den Rücken zu, zog Schuhe und Strümpfe aus und stieg die ersten Stufen ins Wasser hinab. Es war grün, klebrig und mit Blasen überzogen. Und stank nach Jauche. Ich konnte nicht schwimmen - aber ich wusste, wie Holzstücke schwimmen. Ich schnappte mir vom Boot des Brotbäckers eine Kiste und ging noch eine Stufe tiefer.«Bist du wirklich so verrückt, dass du dahin schwimmen willst?», fragte er mich. Ich würdigte ihn keines Blickes. Da machte er mir ein Angebot. Das Geld brauchte ich für Mariettas Arznei, daher
gab ich ihm das goldene Kreuz an meiner Kette. Dann zog ich meine Schuhe wieder an und legte mich längs auf den Schiffsboden.
Der Canal Grande schimmerte so spiegelglatt wie ein Weiher: Nicht eine Fähre, die übersetzte, nicht ein Frachtkahn oder festgemachtes Schiff vor den Lagerhallen, sämtliche Gondeln an den Pfeilern vertäut, die Poller einsam und verlassen, leer die Anlegestelle der Fischer. Ich bat den Brotbäcker, vor dem Palazzo Loredan auf mich zu warten, in wenigen Minuten sei ich wieder zurück. Aber das Haus meines Schwagers war leer.«Signor Episcopi ist vor drei Tagen abgereist!», rief mir die Nachbarin zu.«Den findet Ihr auf dem Land, in Zelarino.»Anschließend verlangte der Brotbäcker alle meine Mantelknöpfe, um mich an der Riva del Vino an Land zu bringen.
Alle Läden in den Gassen hinter Rialto, wo es normalerweise vor Menschen wimmelte, waren verschlossen: Weder bei Stella noch bei Tre Stendardi, Navicella oder Tre Monti antwortete mir jemand. Es begann zu regnen. Während ich durch die menschenleere Stadt schweifte, begegnete ich lediglich ein paar Pizzicamorti mit ihren Bahren und einigen Dieben mit Leitern auf der Schulter, die ungestraft Fensterläden und Scheiben aus den Angeln hoben und in die verlassenen Häuser eindrangen. Ich lief über einen knirschenden Teppich aus zerbrochenen Fensterscheiben. Später lag immer mehr sumpfiger Morast in den Gassen, auf dem ich dreimal ausrutschte. Ich irrte von San Cassan nach San Stae, von San Boldo nach San Polo, von San Pantalon nach Trovaso und bis nach Carmini: Überall baumelten Schilder vor verriegelten Flügeltüren oder zwischen dunklen, regennassen Mauern, sämtliche Apotheken waren geschlossen. Die wenigen noch geöffneten hatten nichts mehr zu verkaufen, ihre Gefäße mit den Heilmitteln waren seit Wochen leer. Ich klopfte an jede einzelne Apotheke, an der ich vorbeikam, und rief:«Um Himmels willen, so öffnet doch!»Es war niemand da - als wären alle tot. Auf einmal
spürte ich Furcht in mir aufsteigen. Mir wurde klar, dass ich mutterseelenallein war. Dass ich seit geraumer Zeit keine Menschenseele mehr gesehen hatte.
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