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Titan 04

Titan 04

Titel: Titan 04
Autoren: Frederik Pohl , Wolfgang Jeschke
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Priester entfernte die beschmutzte Robe von ihren Füßen und brachte sie fort. Man würde sie nun reinigen und über den Altar breiten, das sphärische Allerheiligste in Gestalt der Mutter Erde. Ihre Falten würden, wieder von blendendem Weiß, sanft über den Erdball fallen. Man würde sie ebenso reinigen wie Tyrells Geist, aus dem es die erdrückende Erinnerungslast eines Jahrhunderts fortzuspülen galt.
    Die Priester traten in einer Reihe hintereinander ab. Sie schaute zurück, durch das offene Tor hinaus auf das kräftige, schöne Grün der Bergweide, deren frühlingshaftes Gras sich nach dem winterlichen Schnee sinnenfreudig empor zur Sonne drängte. Unsterblich , dachte sie und hob die Arme in die Höhe, fühlte das ewige Blut, das Ichor der Götter, in dunklem Rhythmus durch ihren Körper singen. Tyrel l wa r es , de r litt . Ic h hab e keine n Prei s z u entrichte n fü r dies … Wunder .
    Zwanzig Jahrhunderte. Und das erste Jahrhundert mußte pures Grauen gewesen sein.
    Ihre Gedanken wandten sich ab vom undurchdringlichen Dunkel der Geschichte, die nun nicht mehr war als Legenden, die nur flüchtig den stillen Weißen Gesalbten geschaut hatte, der durch das Chaos des tobenden Bösen schritt, als die Erde sich verfinsterte, als sie sich rötete von Haß und Pein. Ragnarök, Armageddon, die Stunde des Anti‐Christ – damals vor zweitausend Jahren! Gegeißelt, standhaft war der Weiße Messias wie ein Licht durch den Abstieg der Erde in die Hölle geschritten und hatte sein Wort von Liebe und Frieden gepredigt. Und er hatte überlebt, während die Kräfte des Bösen sich selbst vernichteten, und die Welten hatten nun Frieden gefunden – vor so langer Zeit Frieden gefunden, daß die Stunde des Anti‐Christ dem Gedächtnis der Menschen entflohen war; sie war eine Sage. Auch in Tyrells Gedächtnis war sie getilgt. Sie war froh darum. Es wäre eine schreckliche Erinnerung gewesen. Bei der Vorstellung, welches Märtyrertum er erduldet haben mußte, schüttelte es sie mit Eiseskälte.
    Doch nun war die Stunde des Messias, und Nerina, der einzige jemals geborene andere unsterbliche Mensch, musterte voller Ehrfurcht und Liebe den verlassenen Torweg, durch welchen Tyrell das Kloster betreten hatte. Sie senkte ihren Blick auf den Teich. Ein kühler Hauch kräuselte den Wasserspiegel; eine Wolke schob sich leichthin an der Sonne vorüber und überschattete den ganzen heiteren Tag.
    Bevor sie wieder durch den Teich schwamm, würden noch siebzig Jahre vergehen. Und wenn sie es getan hatte, wenn sie erwachte, würde sie den Blick von Tyrells blauen Augen auf sich gerichtet sehen, seine Hände sanft auf den ihren spüren, um sie zu erheben, damit sie sich in jener Jugend zu ihm geselle, die der Frühling war, in dem sie auf ewig lebten.
    Ihre Augen sahen ihn an; ihre Hand berührte die seine. Er lag auf der Couch. Aber noch immer wollte er nicht erwachen.
    Sorgenvoll schweifte ihr Blick zu Mons hinüber. Er schenkte ihr ein zuversichtliches Nicken.
    Dann spürte sie eine sehr schwache Regung unter ihrer Hand. Seine Lider bebten. Langsam hoben sie sich. Unverändert lag die ruhige, tiefe Bestimmtheit in den blauen Augen, die soviel gesehen, in dem Bewußtsein, das soviel vergessen hatte. Einen Moment lang blickte Tyrell zu ihr auf. Dann lächelte er.
    »Jedesmal befürchte ich«, sagte sie mit zittriger Stimme, »du könntest mich nicht wiedererkennen.«
    »Wir geben ihm die Erinnerung an dich stets zurück, Gottgesegnete«, sagte Mons. »Wir werden es immer tun.« Er beugte sich über Tyrell. »Bist du zur Gänze erwacht, Unsterblicher?«
    »Ja«, antwortete Tyrell und richtete sich auf, schwang seine Beine über den Rand der Couch und erhob sich mit raschen, sicheren Bewegungen. Er schaute in die Runde, sah die neue schneeweiße Robe bereitliegen und zog sie an. Sowohl Nerina als auch Mons bemerkten, daß kein Zögern seine Handlungen hemmte. Der Geist in dem unsterblichen Körper war wieder jung, sicher und klar.
    Mons kniete nieder; Nerina ebenfalls. »Wir danken Gott für die Gnade einer neuerlichen Inkarnation«, sagte der Priester gedämpft. »Möge Friede ihr Zeitmaß und alle weiteren ihrer Zeitspannen beherrschen.«
    Tyrell erhob Nerina auf die Füße. Er griff zu und stellte auch Mons auf die Beine. »Mons, Mons«, sagte er und schalt beinahe.
    »Mit jedem Jahrhundert behandelt man mich weniger wie einen Menschen und mehr wie einen Gott. Hättest du vor ein paar hundert Jahren gelebt… ja, gebetet haben sie
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