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Titan 04

Titan 04

Titel: Titan 04
Autoren: Frederik Pohl , Wolfgang Jeschke
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Mädchen seinen Arm, und er nickte folgsam und ging weiter, während er die besorgniserregende Empfindung eines bevorstehenden Verlusts verspürte, die sein müder Verstand gegenwärtig nicht begreifen konnte.
    Ich bin sehr alt, dachte er.
    Im Hof verneigten sich die Priester vor ihm. Mons, ihr Oberhaupt, stand auf der anderen Seite eines breiten Teichs, der das bodenlose Blau des Himmels widerspiegelte. Dann und wann kräuselte ein leiser, kühler Hauch das Wasser.
    Alte Gewohnheiten sandten ihre Forderungen durch sein Nervensystem. Tyrell hob die Hände und segnete. Gemessen sprach seine Stimme die eingeprägten Wendungen. »Friede soll herrschen. Überall auf der gequälten Erde, auf allen Welten und in Gottes gepriesenem Himmel soll Friede herrschen. Die Mächte der… der…« – Seine Hand schwankte; dann erinnerte er sich. – »… der Finsternis sind machtlos gegen Gottes Liebe und Güte. Ich bringe euch Gottes Wort. Es heißt Liebe. Es heißt Güte. Es heißt Friede.«
    Sie warteten, bis er schwieg. Es war das falsche Ritual zur falschen Zeit. Aber das spielte keine Rolle, denn er war der Messias. Jenseits des Teichs vollführte Mons einen Wink. Das Mädchen an Tyrells Seite legte seine Hände sanft auf die Schultern seiner Robe. »Unsterblicher«, rief Mons, »wirst du dein beflecktes Gewand ablegen und mit ihm die Sünden der Zeit?« Verständnislos blickte Tyrell über den Teich. »Wirst du die Welten mit einem weiteren Jahrhundert deiner heiligen Gegenwart beglücken?«
    Tyrell entsann sich einiger Sätze. »Ich gehe in Frieden«, sagte er. »Ich kehre zurück in Frieden.« Sachte streifte das Mädchen ihm die weiße Robe ab, kniete nieder und löste die Sandalen von seinen Füßen. Nackt stand er am Rand des Teichs. Er sah aus wie ein Zwanzigjähriger. Er war zweitausend Jahre alt. Eine tiefe Unruhe regte sich in seinem Innern. Mons hielt seine Arme erhoben wie zu einer Einladung; verwirrt schaute Tyrell sich um und begegnete dem Blick der grauen Mädchenaugen. »Nerina?« murmelte er.
    »In den Teich«, flüsterte sie. »Schwimm hindurch.«
    Er streckte eine Hand aus und berührte ihre. Sie spürte jenen wundervollen Strom von Sanftheit, der von seiner unbezähmbaren Kraft herrührte. Sie drückte seine Hand fest, in der Absicht, die Wolken zu durchdringen, die seinen Geist verdunkelten, um ihm zu verstehen zu geben – es wenigstens zu versuchen –, daß alles wieder gut sein, daß sie auf ihn warten würde – wie sie während der letzten dreihundert Jahre schon dreimal auf seine Wiederauferstehung gewartet hatte. Sie war erheblich jünger als Tyrell, aber auch sie war unsterblich.
    Für einen Moment wichen die Nebel aus seinen blauen Augen. »Warte auf mich, Nerina«, sagte er. Dann, indem er seine alte Geschicklichkeit zurückgewann, tauchte er mit einem makellosen Kopfsprung in den Teich.
    Sie sah zu, wie er ihn sicher und mit gleichmäßigen Zügen durchquerte. Sein Körper wies kein Gebrechen auf; niemals, wie sehr er auch alterte. Nur sein Geist verhärtete sich, furchte sich tiefer in die eisernen Gleise der Zeit, verlor seine Reibung mit der Gegenwart, so daß sein Gedächtnis sich Stück um Stück zersetzte.
    Doch die ältesten Erinnerungen erloschen zuletzt, die unbewußten Erinnerungen als allerletzte. Sie war sich ihres eigenen Körpers bewußt, jung, kräftig und schön, und so würde er immer sein. Ihr Verstand… auch darauf gab es eine Antwort. Sie wohnte der Erteilung dieser Antwort bei.
    Ich bin wahrlich sehr gesegnet, dachte sie. Unter allen Frauen der Welt bin ich Tyrells Braut und außer ihm der einzige unsterbliche Mensch. Liebevoll und ehrfürchtig beobachtete sie, wie er schwamm. Zu ihren Füßen lag seine abgelegte Robe, besudelt mit den Erinnerungen eines Jahrhunderts. Es schien gar nicht so lange her zu sein. Sie entsann sich noch sehr deutlich ans letztemal, als sie Tyrell durch den Teich schwimmen sehen hatte. Und davor hatte sie es schon einmal gesehen – das war das erste Mal gewesen; für sie, nicht für Tyrell.
    Triefnaß verließ er das Wasser und zögerte. Sie empfand einen plötzlichen, heftigen Schmerz beim Anblick seines Wechsels von starker Sicherheit zu verwirrter Hilflosigkeit. Aber Mons stand bereit. Er hob einen Arm und nahm Tyrells Hand. Er führte den Messias zu einer Tür im hohen Klostergemäuer und hinein. Sie glaubte zu erkennen, daß Tyrell sich mit aller Sanftmut, die seine tiefe, wunderbare Ruhe stets ausstrahlte, nach ihr umdrehte.
    Ein
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