Titan 11
betrachtete ihn durch den Nebel der Euphorie. Er war nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte. Sie blickte ihn sehr lange an. Dann ließ sie ihren schlanken Arm sinken und deutete mit den gespreizten Fingern auf ihn. Sie lachte tief in der Kehle.
»Liebe, o komm zu mir…«, sagte sie.
Er durchquerte schnell das Zimmer und nahm ihre Hand. Die Finger schlossen sich warm um die seinen. Sie zog ihn hinab, so daß er neben ihr knien mußte. Sie hob auch den anderen Arm, lachte erneut ihr sanftes Lachen und hob ihr Gesicht dem seinen entgegen. Der Kuß war zärtlich und lang. Er fing etwas von ihrer Euphorie ein, als sie ihm den Wohlgeruch des Tees ins Gesicht hauchte. Und er war überrascht, nach dem Kuß, als sie ihre Arme von seinem Nacken gelöst hatte, ihren Atem plötzlich an seiner Wange zu spüren. Tränen rannen über ihr Gesicht, und sie schluchzte.
Er ließ sie los und blickte sie verblüfft an. Sie schluchzte erneut, atmete tief ein und sagte: »Oh, Oliver, Oliver…« Dann schüttelte sie den Kopf, riß sich los und drehte ihr Gesicht zur Seite. »Es… es tut mir leid«, sagte sie mit bebender Stimme. »Bitte verzeih mir. Es macht nichts aus… ich weiß, daß es nichts ausmacht, doch…« »Was ist los? Was macht nichts aus?« »Nichts. Nichts… bitte vergiß es. Überhaupt nichts!« Sie nahm ein Taschentuch vom Tisch und putzte sich die Nase, lächelte ihn strahlend durch ihre Tränen an.
Plötzlich wurde er wütend. Er hatte genug Ausreden und geheimnisvolle Halbwahrheiten gehört. »Glaubst du, ich bin verrückt?« sagte er hart. »Ich weiß genug, um…«
»Oliver, bitte!« Sie hielt ihre Tasse hoch, aus der es dampfte. »Bitte, keine weiteren Fragen. Hier, Euphorie brauchst du, Oliver, Euphorie, keine Antworten.«
»Welches Jahr schrieb man, als du dieses Lied in Canterbury gehört hast?« fragte er und stieß die Tasse beiseite.
Sie blinzelte ihn an; die Tränen schimmerten hell auf ihrer Haut. »Warum? Was glaubst du denn, welches Jahr es war?«
»Ich weiß es«, gab Oliver grimmig zurück. »Ich weiß, in welchem Jahr dieses Lied in Mode war. Ich weiß, daß du direkt aus Canterbury kommst, Hollias Mann hat es gesagt. Jetzt haben wir Mai, aber es war Herbst in Canterbury, und du kommst direkt von dort, weil dir das Lied noch immer durch den Kopf geht.
Chaucers Ablaßkrämer hat dieses Lied irgendwann zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts gesungen. Hast du Chaucer gesehen, Kleph? Wie war es vor so langer Zeit in England?«
Kleph fixierte ihn schweigend. Dann sanken ihre Schultern herab, und ihr ganzer Körper unter der blauen Robe entspannte sich in Resignation. »Ich bin ein Narr«, sagte sie leise. »Es muß ganz leicht gewesen sein, mich hereinzulegen. Glaubst du wirklich, was du da sagst?«
Oliver nickte.
»Nur wenige glauben es«, sagte sie sanft. »Das ist eine unserer Maximen, wenn wir reisen. Wir sind sicher vor allzugroßem Argwohn, denn die Leute aus den Zeiten, bevor Die Reise begann, glauben nicht daran.«
Die Leere in Olivers Magen verstärkte sich plötzlich. Für einen Moment schien er das Gefüge der Zeit zu verlassen, und das Universum wurde unwirklich um ihn herum. Er fühlte sich krank, fühlte sich nackt und hilflos. In seinen Ohren summte es, und das Zimmer verschwamm vor ihm.
Er hatte es nicht wirklich geglaubt – nicht bis zu diesem Moment. Er hatte irgendeine rationale Erklärung von ihr erwartet, die mit seinen haarsträubenden Mutmaßungen aufräumen, seine Spekulationen zurechtrücken würde, so daß ein Mensch sie als glaubwürdig akzeptieren konnte. Doch dies hatte er nicht erwartet.
Kleph tupfte mit dem hellblauen Taschentuch über ihre Augen und lächelte traurig.
»Ich weiß«, sagte sie. »Es muß furchtbar sein, wenn man es akzeptieren muß. All deine Vorstellungen werden einfach über den Haufen geworfen… wir kennen es natürlich von Kindheit an, aber für dich… Hier, Oliver, das Anregungsmittel wird es leichter machen.«
Er nahm die Tasse; an der Öffnung befand sich noch eine schwache Spur ihres Lippenstiftes. Er trank, fühlte die betäubende Süße durch seinen Kopf ziehen, und sein Gehirn schien sich ein wenig im Kopf zu drehen, als der flüchtige Effekt einsetzte. Mit diesen Drehungen schwand seine Konzentration, und alle seine Wertmaßstäbe auch.
Er begann sich etwas besser zu fühlen. Das Fleisch haftete wieder an seinen Knochen, und der warme Mantel der zeitweiligen Sicherheit auf seinem Fleisch. Er war nicht länger nackt und im
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