Titan 11
Strudel der unstabilen Zeit.
»Die Geschichte ist wirklich sehr simpel«, erklärte Kleph. »Wir… reisen. Unsere eigene Zeit ist gar nicht so schrecklich weit von deiner entfernt. Nein, wie weit, darf ich nicht sagen. Aber wir erinnern uns noch an eure Lieder und Dichter und an einige eurer großen Schauspieler. Wir sind ein Volk von großer Muße, und wir kultivieren die Kunst, uns gut zu unterhalten.
Wir machen eine Reise, ein ganzes Jahr lang. Wir suchen uns das Schönste heraus. Dieser Herbst in Canterbury war der großartigste Herbst, den unsere Forscher überhaupt aufstöbern konnten. Wir machten eine Pilgerfahrt zum Schrein – es war ein wunderbares Erlebnis, obwohl die Kleidung nur schwer zu bändigen war.
Nun ist dieser Monat, der Mai, schon fast vorüber – der lieblichste Mai aller zivilisierter Zeiten. Ein perfekter Mai in einer wunderbaren Epoche. Ihr könnt gar nicht wissen, in welcher schönen, fröhlichen Epoche ihr lebt, Oliver. Das Gefühl im Herzen der Städte – diese wunderbare nationale Zuversicht, dieses Glücksgefühl – alles läuft so schön wie ein Traum. Es gab andere dieser Monate im Frühling, mit schönem Wetter, aber in all diesen Epochen störte ein Krieg oder eine Hungersnot oder etwas anderes.« Sie zögerte, verzog das Gesicht und fuhr schnell fort: »Wir beabsichtigen, uns in ein paar Tagen zur Krönung in Rom zu treffen. Ich glaube, im Jahre 800 – zu Weihnachten. Wir…«
»Aber warum besteht ihr auf diesem Haus?« unterbrach sie Oliver. »Warum wollen die anderen es euch wegnehmen?«
Kleph blickte ihn an. Er sah, wie erneut helle Tränen aus ihren Augen quollen, wie sich Hartnäckigkeit auf ihre sanften, gebräunten Gesichtszüge legte. Sie schüttelte den Kopf.
»Das darfst du mich nicht fragen.« Sie hielt ihm die dampfende Tasse hin. »Hier, trinke und vergesse, was ich gesagt habe. Ich kann dir nicht mehr erzählen, überhaupt nichts mehr.«
Als er aufwachte, wußte er einen Moment lang nicht, wo er sich befand. Er erinnerte sich nicht daran, Kleph verlassen zu haben oder zu seinem eigenen Zimmer zurückgekehrt zu sein. In diesem Moment war es ihm auch gleichgültig. Denn als er erwachte, umgab ihn überwältigender Schrecken.
Die Dunkelheit war damit angefüllt. Wellen der Furcht und des Schmerzes tosten gegen sein Gehirn. Er lag bewegungslos da, zu verängstigt, einen Finger zu rühren, und eine atavistische Erinnerung ermahnte ihn, ruhig liegenzubleiben, bis er wußte, aus welcher Richtung die Gefahr drohte. Grundlose Panik flutete in reißenden Wogen über ihn hinweg; sein Kopf schmerzte angesichts dieser Gewalt, und die Dunkelheit pulsierte im gleichen Takt.
Es klopfte an der Tür. Omeries tiefe Stimme erklang.
»Wilson! Wilson, sind Sie wach?«
Oliver mußte es zweimal versuchen, bevor er den Atem fand, Antwort zu geben. »J… Ja. Was ist?«
Der Türknopf quietschte. Omeries Gestalt erschien, griff nach dem Lichtschalter, und das Zimmer wurde wieder sichtbar. Omeries Gesicht war vor Anstrengung verzerrt, und er hielt eine Hand gegen den Kopf gepreßt, als ob dieser im gleichen Rhythmus wie Olivers von Wellen des Schmerzes heimgesucht würde.
In diesem Moment, noch bevor Omerie etwas sagen konnte, erinnerte Oliver sich an Hollias Warnung. »Ziehen Sie aus, junger Mann – ziehen Sie noch vor heute abend aus.« In panischer Angst fragte er sich, was sie in diesem Haus bedrohte, das mit dem Rhythmus des nackten Schreckens pulsierte.
Mit ärgerlicher Stimme beantwortete Omerie die unausgesprochene Frage. »Jemand hat einen Subsonic im Haus versteckt, Wilson«, erklärte er. »Kleph meint, daß Sie wissen könnten, wo er steckt.«
»Ein was?«
»Ein Gerät«, sagte Omerie ungeduldig. »Wahrscheinlich eine kleine Metallschachtel, die…« »Oh«, sagte Oliver in einem Ton, der Omerie alles erklären mußte. »Wo ist er?« fragte er. »Schnell, wir müssen dem ein Ende machen.« »Ich weiß es nicht.« Mit einiger Anstrengung unterdrückte Oliver das Klappern seiner Zähne. »Sie meinen, daß… daß nur die kleine Schachtel daran Schuld ist?«
»Natürlich. Nun sagen Sie mir, wo ich sie finde, bevor wir alle verrückt werden.«
Zitternd taumelte Oliver aus dem Bett, ergriff mit nervösen Händen seinen Morgenmantel. »Ich glaube, sie hat ihn irgendwo im Parterre versteckt«, sagte er. »S… sie war nicht lange weg.«
Mit ein paar kurzen Fragen bekam Omerie die ganze Geschichte aus ihm heraus. Als Oliver geendet hatte, schlugen seine Zähne vor
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