Titan 11
seinem Stift und dem Notizblock. Bei der Bewegung sah Oliver das bekannte Mal der Narbe an seinem kräftigen Handgelenk.
»Auch Kleph hatte diese Narbe«, hörte er sich flüstern. »Und die anderen.«
Cenbe nickte. »Eine Impfung. Unter diesen Umständen war sie notwendig. Wir wollen die Seuche nicht in unsere eigene Zeit verschleppen.«
»Seuche?«
Cenbe zuckte die Achseln. »Sie würden ihren Namen sowieso nicht kennen.«
»Aber wenn Sie sich gegen die Seuche impfen können…« Oliver stützte sich mit seinem schmerzenden Arm auf. In seinem Kopf schwirrte ein Gedanke, der ihn nicht mehr loslassen wollte. Bei dieser Anstrengung schien er die Verwirrung in seinem Verstand besser durchdringen zu können. Mit größter Anstrengung setzte er sich auf.
»Jetzt verstehe ich«, sagte er. »Warten Sie mal. Ich habe versucht, meine Gedanken zu ordnen. Sie können die Geschichte verändern? Ja, Sie können es! Ich weiß, daß Sie es können. Kleph sagte, sie mußte versprechen, sich nicht einzumischen. Sie alle mußten es versprechen. Bedeutet das, daß Sie wirklich Ihre eigene Vergangenheit ändern können – unsere Gegenwart?«
Cenbe legte den Block wieder nieder. Er bedachte Oliver nachdenklich mit einem gespannten Blick seiner dunklen Augen unter schweren Brauen. »Ja«, sagte er. »Ja, die Vergangenheit kann verändert werden, doch es ist nicht leicht. Und notwendigerweise wird dadurch auch die Zukunft geändert. Die Strömungen der Probabilität werden zu neuen Mustern zusammengefügt – aber es fällt äußerst schwer – und es ist verboten. Der physiotemporale Fluß tendiert immer dazu, wieder zu seiner Norm zurückzugleiten. Daher ist es auch so schwer, irgendeine Veränderung zu erzwingen.« Er zuckte die Achseln. »Eine theoretische Wissenschaft. Wilson, wir verändern die Vergangenheit nicht. Wenn wir die Vergangenheit veränderten, würden wir auch unsere Gegenwart verändern. Und unsere Zeit‐Welt ist völlig nach unserem Geschmack. Es mag dort auch ein paar Unzufriedene geben, aber ihnen ist das Privileg der Zeitreise nicht gestattet.«
Nun schrie Oliver fast gegen das Tosen hinter den Fenstern an. »Doch Sie haben die Macht dazu – Sie könnten den Lauf der Geschichte ändern, wenn Sie wollten – jeden Schmerz, jedes Leid, jede Tragödie ausradieren…«
»Das alles ist vor langer Zeit geschehen«, sagte Cenbe.
»Nein – es geschieht jetzt! Nicht das!«
Cenbe betrachtete ihn eine Weile nachdenklich. »Das auch«, sagte er dann.
Und dann bemerkte Oliver plötzlich, aus welch einer Entfernung Cenbe ihn wirklich betrachtete. Sie war unermeßlich, da die Zeit sie bestimmte. Cenbe war ein Komponist und ein Genie, und daher sicherlich auch stark gefühlsbetont, doch seine geistige Heimat lag weit, weit voraus in der Zukunft. Die sterbende Stadt draußen, die heutig e Welt, war für Cenbe nicht real, konnte wegen dieses grundlegenden Unterschiedes in der Zeit nicht real für ihn sein. Sie war lediglich ein Baustein des Fundaments, auf dem Cenbes Kultur in einer dunklen, unbekannten, schrecklichen Zukunft ruhte.
Mit einem Mal kam sie Oliver schrecklich vor. Sogar Kleph – auch sie zeigte sich nicht berührt, wie die ganze Reisegesellschaft, die unter Hollias bösartigen kleinen Anschlägen litt, mit denen sie sich einen Logenplatz zu erkämpfen versuchte, während der Meteor durch die Erdatmosphäre donnerte. Sie waren alle Dilettanten, Kleph und Omerie und all die anderen. Sie reisten nur als Zuschauer durch die Zeit. Waren sie von ihrem normalen Leben gelangweilt, übersättigt?
Nicht übersättigt genug, um vielleicht eine Änderung herbeizuführen. Ihre eigene Zeit‐Welt war eine warme Gebärmutter, in der alle ihre Bedürfnisse befriedigt wurden. Sie wagten es nicht, die Vergangenheit zu ändern – sie konnten nicht das Risiko eingehen, ihre eigene Gegenwart zu gefährden.
Ekel erfaßte ihn. Als er sich an die Berührung von Klephs Lippen erinnerte, verspürte er saure Fäulnis auf der Zunge. Sie war verlockend gewesen, das hatte er nur zu gut gewußt. Doch das Nachspiel, die Nachwirkungen…
Diese Rasse aus der Zukunft – er hatte es verschwommen erfaßt, bevor Klephs Nähe seine Vorsicht ertränkt und sein Empfindungsvermögen gelähmt hatte. Zeitreise nur als Fluchtmechanismus kam ihm blasphemisch vor. Eine Rasse mit solch einer Macht…
Kleph – ihn zurücklassend wegen einer barbarischen, prächtigen Krönung in Rom vor mehr als tausend Jahren – wie hatte sie ihn gese hen?
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