Titan 16
die du versuchst verborgen zu halten. Das Kätzchen – du könntest es verstecken, aber das willst du ja gar nicht. Du mußt etwas riskieren, um es zu zeigen.«
»Ich werde ihnen sagen, daß ich das irgendwo gelesen habe.«
»Das war also die Unwahrheit, das habe ich mir gedacht. Du hast es dir selbst zusammengereimt.«
Schweigen.
Dann sagte Timothy Paul: »Ja, ich habe es mir ausgedacht. Aber das ist mein Geheimnis.«
»Bei mir ist dein Geheimnis sicher.«
Aber der Junge vertraute ihm nicht. Welles bemerkte bald, daß er auf die Probe gestellt worden war. Tim nahm das Buch mit nach Hause und brachte es zurück, nahm die Bücher aus der Bibliothek, die Welles ihm besorgte und brachte die nach einiger Zeit ebenfalls zurück. Aber er redete wenig und blieb verschlossen. Welles konnte reden, so viel er wollte, er bekam aus Tim wenig oder gar nichts heraus. Tim hatte ihm alles gesagt, was er ihm sagen würde. Er redete über nichts mit Ausnahme der Dinge, über die jeder Junge zu reden pflegte.
Nach zwei Monaten, in denen Welles Tim einmal die Woche offiziell und einige Male inoffiziell sah – indem er nämlich am Schulspielplatz auftauchte, um den Kindern zuzusehen oder Tim beim Zeitungsaustragen begegnete und ihn nachher zu einer Limonade einlud – , hatte Welles nur wenig mehr in Erfahrung gebracht. Er versuchte es erneut. Während der zwei Monate hatte er nicht gebohrt, hatte das Schweigen des Jungen respektiert und versucht, ihm Zeit zu lassen, ihn kennen und ihm vertrauen zu lernen.
Aber eines Tages fragte er: »Was wirst du machen, wenn du einmal erwachsen bist, Tim? Katzen züchten?«
Tim lachte.
»Ich weiß noch nicht. Ich denke manchmal dies und manchmal das.«
Das war eine typische Jungenantwort. Welles ging nicht darauf ein.
»Was würdest du am liebsten tun?« fragte er.
Tim lehnte sich eifrig vor. »Das, was Sie tun!« rief er.
»Du hast vermutlich darüber gelesen«, sagte Welles, so beiläufig er konnte. »Dann weißt du vielleicht auch, daß man, ehe man das tun kann, was ich tue, es selbst wie ein Patient erleben muß. Er muß auch Medizin studieren und muß natürlich ein richtiger Arzt sein. Das kannst du noch nicht. Aber du kannst es jetzt wie ein Patient erleben.«
»Warum? Nur, um es einmal zu erleben?«
»Ja. Und auch, weil es hilft. Du müßtest der Angst ins Auge sehen und mit ihr fertig werden. Du wirst eine Menge anderer Dinge geradebiegen müssen oder sie zumindest akzeptieren.«
»Wenn ich erwachsen bin, wird auch meine Angst weg sein«, sagte Timothy. »Das glaube ich wenigstens. Ich hoffe das.«
»Bist du sicher?«
»Nein«, gab der Junge zu. »Ich weiß nicht genau, warum ich Angst habe. Ich weiß es nur. Ich muß die Dinge verstecken. Ist das auch schlecht?«
»Gefährlich ist es vielleicht.«
Timothy überlegte eine Weile schweigend. Welles rauchte drei Zigaretten und wäre gerne auf und ab gegangen, wagte aber nicht, sich zu bewegen.
»Wie wäre es denn?« fragte Tim am Ende.
»Du würdest mir über dich erzählen. Woran du dich erinnerst. Deine Kindheit – so wie deine Großmutter, wenn sie über dich redet.«
»Sie hat mich aus dem Zimmer geschickt. Ich soll nicht glauben, daß ich intelligent bin«, sagte Tim und grinste, etwas, das bei ihm sehr selten war.
»Und du sollst wohl auch nicht wissen, wie gut sie dich aufgezogen hat?«
»Sie hat es sehr gut gemacht«, sagte Tim. »Sie hat mir die klügsten Dinge beigebracht, die ich kenne.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, daß man den Mund hält. Daß man nicht alles sagen soll, was man weiß. Daß man nicht prahlen soll.«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Welles. »Hast du je die Geschichte vom heiligen Thomas von Aquin gehört?«
»Nein.«
»Als er als Student in Paris war, hat er in der Schule nie etwas gesagt, und die anderen hielten ihn für dumm. Einer von ihnen erbot sich sogar freundlicherweise, ihm zu helfen und ging alle Arbeiten sehr geduldig mit ihm durch, damit er sie verstehen lernen sollte. Und dann kamen sie eines Tages zu einer Stelle, wo der andere Student völlig durcheinander geriet und zugeben mußte, daß er sie selbst nicht begriff. Da schlug Thomas eine Lösung vor, und es war die richtige. Er wußte die ganze Zeit mehr als irgendeiner der anderen, aber sie nannten ihn den dummen Ochsen.«
Tim nickte ernst.
»Und als er erwachsen war?« fragte der Junge.
»Er war der größte Denker aller Zeiten«, sagte Welles. »Ein Superhirn aus dem vierzehnten
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