Titan 16
waren. So bin ich auch – aber die werden mir nicht die Augen ausstechen. Ich werde nie zulassen, daß sie erfahren, daß ich etwas sehe.«
»Siehst du Dinge, die Erwachsene nicht sehen können?«
Tim deutete auf die Zeitschrift.
»Nur so, meinte ich. Ich höre Leute reden, in der Straßenbahn und in Läden und bei der Arbeit und so. Ich lese, wie sie sich verhalten – in den Nachrichten. Ich bin wie sie, genau wie sie, nur daß ich mir hundert Jahre älter vorkomme – reifer.«
»Du meinst also, daß die meisten ziemlich unvernünftig sind?«
»Nein, das nicht. Ich meine nur, daß so wenige von ihnen vernünftig sind oder das zeigen, wenn sie es sind. Sie scheinen es nicht einmal zu wollen. Auf ihre Art sind es gute Leute, aber was meinen Sie wohl, was die aus mir machen würden? Selbst als ich erst sieben war, konnte ich ihre Motive schon verstehen, aber sie selbst konnten ihre eigenen Motive nicht verstehen. Und sie sind so faul – sie wollen gar nichts wissen oder begreifen. Die meisten der Bücher, die ich mir aus der Bibliothek geholt habe, um aus ihnen zu lernen, wurden nur ganz selten von den erwachsenen Leuten auch nur angerührt. Dabei waren sie für ganz normale, erwachsene Leute bestimmt. Aber die erwachsenen Leute wollen gar nichts wissen – sie wollen nur ihren Spaß haben. Ich empfinde für die meisten Leute das, was meine Großmutter für Babys und junge Hunde empfindet. Nur daß sie nicht die ganze Zeit vorgeben muß, ein junger Hund zu sein«, fügte Tim etwas bitter hinzu.
»Du hast jetzt in mir einen Freund.«
»Ja, Peter«, sagte Tim und sein Gesicht hellte sich dabei auf. »Und Brieffreunde habe ich auch. Die Leute mögen das, was ich schreibe, weil sie nicht wissen können, daß ich nur ein kleiner Junge bin. Wenn ich einmal erwachsen bin…«
Tim führte den Satz nicht zu Ende. Welles verstand jetzt einige der Ängste, die Tim nicht gewagt hatte, in Worte zu fassen. Wenn er erwachsen war, würde er dann ebenso weit über allen Erwachsenen stehen, so wie er das bisher sein ganzes junges Leben lang über seinen Altersgenossen gestanden hatte? Die erwachsenen Freunde, denen er jetzt auf einigermaßen gleichem Niveau begegnete – würden sie ihm dann auch wie Babys oder junge Hündchen vorkommen?
Peter wagte es auch nicht, den Gedanken in Worte zu kleiden. Noch viel weniger brachte er es fertig, einen anderen Gedanken auch nur anzudeuten. Bis jetzt hatte Tim kein besonderes Interesse an Mädchen entwickelt; sie existierten für ihn als Teil der menschlichen Rasse, aber einmal würde die Zeit kommen, in der Tim ein erwachsener Mann sein und den Wunsch verspüren würde, zu heiraten. Und wo unter allen jungen Hündchen konnte er eine Gefährtin finden?
»Wenn du erwachsen sein wirst, werden wir immer noch Freunde sein«, sagte Peter. »Und wer sind die anderen?«
Es erwies sich, daß Tim auf der ganzen Welt Brieffreunde hatte. Er spielte Korrespondenzschach – ein Spiel, das er nie persönlich zu spielen wagte, nur dann, wenn er sich dabei zwang, die Steine unbedacht über das Spielfeld zu bewegen und den Gegner wenigstens bei der Hälfte aller Spiele gewinnen zu lassen. Und dann hatte er auch viele Freunde, die eine seiner Kurzgeschichten oder einen Artikel aus seiner Feder gelesen und ihm dazu einen Brief geschrieben hatten, woraus sich eine Korrespondenzfreundschaft entwickelt hatte. Nachdem ihm das zwei‐oder dreimal passiert war, hatte er selbst Brieffreundschaften begonnen, immer mit Leuten, die in großer Entfernung lebten. Den meisten dieser Leute nannte er einen Namen, der zwar nicht falsch war, aber doch so aussah. Nämlich Paul T. Lawrence. Lawrence war sein Mittelname, und wenn man nach dem Paul ein Komma setzte, war es sogar sein eigener Name. Er besaß unter diesen Namen ein Schließfach und hatte T. Paul, den Besitzer des großen Bankkontos, dafür als Referenz angegeben.
»Brieffreunde im Ausland? Beherrschst du irgendwelche Fremdsprachen?«
Ja, das tat Tim. Er hatte sich auch diese Kenntnisse auf dem Korrespondenzweg angeeignet; viele Universitäten boten solche Kurse an und liehen den Studenten Schallplatten, damit sie auch die richtige Aussprache lernen konnten. Tim hatte einige solche Kurse absolviert und andere Sprachen aus Büchern gelernt. Übung verschaffte er sich mittels der Briefe in andere Länder und der Antworten, die ihn erreichten.
»Normalerweise kaufe ich mir ein Wörterbuch und schreibe dann an den Bürgermeister irgendeiner Stadt oder an eine
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