Titan 20
verließ. Er begann ihn zu verlassen, als er bereit war, sich selbst einzugestehen, daß er wahnsinnig gewesen war. Etwas war über sein Gehirn gefegt, hatte es verdreht, es in Wallung gebracht. Endlich erkannte er seine Umgebung, erkannte mit einem Gefühl der Erschütterung, daß er sich in einer Zelle tief unter dem Hauptpalast befand, eine Zelle, die er selbst oft gefüllt und wieder geleert hatte, in einer Zeit, die ihm jetzt wie die einer früheren Inkarnation vorkam.
Und in seine Müdigkeit und Lethargie mischte sich jetzt ein neues, seltsames Gefühl mentaler Macht, so als hätte die Macht, die sein Gehirn verdreht hatte, gleichzeitig andere Bereiche seines Bewußtseins freigelegt, die bisher geschlafen hatten. Während der zahllosen Tage der Qual hatte er immer wieder einen dauernden schrillen Chor dünner Stimmen gehört, so als läge er inmitten einer riesigen, unsichtbaren Schar spielender Kinder. Jetzt konnte er jederzeit diese Stimmen zurückrufen, einfach indem er hinausgriff, um sie zu hören.
Als man ihm Nahrung brachte, trennte sich eine der schrillen Stimmen von den anderen und wurde so deutlich, daß er einzelne Sätze verstehen konnte. »... sollte hingerichtet werden ... Andro wird entscheiden ... viele Dinge verändert ... die Großen ...«
Und allmählich erkannte Deralan, daß er die Gedanken derer, die nahe bei ihm waren, belauschte. Lang Zeit lauschte er. So wurde er mit seiner neuen Fähigkeit vertraut und konnte besser mit ihr umgehen. Einmal, als man ihm auf einem irdenen Teller Nahrung brachte, wollte er die Bewegung, die Finger seiner rechten Hand zu öffnen; sie öffneten sich jedoch nicht; er aber wollte mit all seiner Willenskraft die Bewegung, daß sie sich öffneten. Der Wachmann starrte auf den zerbrochenen Teller und das über den Boden verstreute Essen. Er massierte seine Finger einige Augenblicke lang.
Nach diesem Anfang begann Deralan mit großer Sorgfalt zu üben, vergewisserte sich, daß das, was er tat, unentdeckt blieb. Er stellte fest, daß er jene, die an der Zelle vorübergingen, zu Fall bringen konnte. Manchmal fragte er sich, ob es nur Einbildung war, aber das Zeugnis seiner Augen und Ohren sagte ihm, daß es Wirklichkeit war.
Als er seiner selbst sicher war, veranlaßte er einen Wachmann, die Zellentüre unverschlossen zu lassen. Deralan ging hinaus. Es war ein Leichtes, jeden weiteren Wachmann zu veranlassen, zur Seite zu sehen. Er ging an ihnen vorbei, als wäre er unsichtbar. Er ging die Treppen bis hinauf ins Erdgeschoß und ging durch all die Tore in die Straßen der Stadt hinaus. Er fand einen Mann, der etwa seine Größe hatte und führte den Mann mit der Kraft seines Geistes an einen engen Platz zwischen zwei Bauwerken und veranlaßte ihn dort, sich auszuziehen und die Gefängniskleidung anzulegen. Der Mann gehorchte mit völlig ausdrucksloser Miene, ohne eine Spur von Verwirrung oder Angst.
Plötzlich erkannte Deralan, wie sinnlos dieser Fluchtversuch war. Diese unerklärliche Gabe, die ihm aufgezwungen worden war, in dem Augenblick, in dem er das Messer schleuderte, war zu machtvoll, um sie nur für etwas so Belangloses wie Flucht einzusetzen. Er wandte sich ernüchtert um und ging zum Palast zurück.
Er fand Andro und das blonde Mädchen in den Gemächern, die einmal Shain gehört hatten. Er schickte die Wachen weg, die darauf hölzern den Korridor hinunterschritten, und trat durch den weiten Bogen ein.
Andro starrte ihn an und seine Augen weiteten sich. »Deralan!« keuchte er.
»Wo ist Shain?«
»Shain ist von eigener Hand gestorben. Larrent und Masec sind im Exil.«
»Ihr seid Kaiser?«
»Der letzte, Deralan. Wie seid Ihr an den Wachen vorbeigekommen?«
»Was plant Ihr mit mir?«
»Einen Prozeß. Euch wird Gerechtigkeit zuteil werden.«
Er stand da und lauschte ihren Gedanken, sortierte zuerst die Andros und dann die der Frau aus. Andro war lediglich verwirrt, hatte keine Angst. Die Frau gab ihm zu denken. Zwei Stimmen schienen von ihr zu kommen. Die eine hier und jetzt und eine weitere Stimme aus dem Hintergrund. Jene sprach von fernen Orten und wunderbaren Dingen und Fähigkeiten, die seine Phantasie überstiegen, von anderen, von anderen wie ihr, die in der Nähe waren. Er brachte das sofort mit den Gedanken der Wachen in Verbindung, die von den Großen gesprochen hatten. Sofort änderte er seinen Plan. Er hatte vorgehabt, sie beide zu töten, sie gegeneinanderzutreiben, bis sie sich töteten. Aber diese zwei waren nicht die
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