Titan 20
die Tiefen der Stadt und folgten Andro auf seiner Flucht. Sie sahen, wie er in einer Sackgasse Zuflucht suchte, umschattet von der ewigen blauen Dämmerung. Sie sahen, wie er die Schultern gegen die Mauer preßte und darauf wartete, daß sie ihn fanden.
Calna und Solin warteten direkt unter ihm.
Bald hatte man den Sterbenden entdeckt. Er gebrauchte seine Waffe gut. Seinen letzten Schuß gab er ab, als er bereits jenseits der Schwelle des Todes war, und sein Finger krümmte sich in der letzten Zuckung. Deralan kam und untersuchte die Leiche sorgfältig. Dann winkte er den anderen, sie wegzutragen.
Solin kehrte in dem frisch geschnittenen Tunnel um. Calna folgte ihm nicht. Er drehte sich um und starrte sie an. »Was ist?«
»Ich ... ich weiß nicht. Ein ganz seltsames Gefühl. Als hätten wir irgendwie einen Fehler gemacht, den wir nicht vorhersagen konnten. Wir hätten den Tunnel nach oben treiben und ihn retten müssen.«
»Und aus einer anständigen Revolution eine pseudoreligiöse Wiederauferstehung machen?« fragte Solin.
»Das weiß ich alles. Es war nur ein eigentümliches Gefühl. Aber ganz stark, Solin. Sehr stark.«
Sarrz, stellvertretender Direktor des Büros für Sozionetik wandte den Kopf, um der Agentin nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Sie hatte ihn um die Unterredung gebeten, nachdem sie und Solin einen ziemlich enttäuschenden, aber unvermeidlichen Bericht über den Tod eines gewissen Andro, Rebell von Ära 4, abgestattet hatten.
»Sie sagen, Sie seien beunruhigt.«
Sie wählte ihre Worte mit Sorgfalt. »Ich möchte EK erbitten, Stellvertretender Direktor. Ich habe seltsame Vorstellungen.Wahrscheinlich die Belastung der letzten paar Monate in Ära 4.«
»Wollen Sie mir etwas darüber sagen?«
Sie zuckte die Achseln. »Sie sind alle ein wenig lächerlich. Mir schien, als hätten wir in irgendeiner anderen Existenz Andro gerettet, anstatt zuzulassen, daß er getötet wurde. Ich weiß, daß es ein höchst unglücklicher Fehler gewesen wäre, ihn noch einmal zu retten. Außerdem habe ich mich auch bei dem Gedanken ertappt, daß wir einige der Äras verloren hätten, indem wir eine zu große Probabilitätsdivergenz von unseren Grundäras zuließen. Und letzte Nacht träumte ich, wir hätten eine Energiequelle, die den Schlupf in jede Ära erlaubt, gleichgültig, wie divergent sie ist.«
»Das sind konkrete Beispiele. Aber welche Haltung nehmen Sie dazu ein?«
»Verwunderung, würde ich sagen. Ahnungen. Und ein Gefühl, als hätte ich eine andere Existenz hinter mir.«
»Wir alle haben Träume«, sagte Sarrz. »Ich habe davon geträumt, an diesem Schreibtisch zu sterben. Ich habe geträumt, ich hätte alle Welten verloren.«
»Und Sie empfinden Furcht?«
»Ein Gefühl der Spannung. Zweifel. Aber ich habe das Gefühl, daß das eine Folge unseres primitiven Erbes ist. In unserem Blut und in unseren Knochen liegt es, nur an einen Raum und an eine Zeit zu denken. Jetzt wissen wir, daß es sechsundzwanzig Raum-Zeit-Kontinuen gibt, die sich mit dem unseren überlagern, die wir erreichen können, und eine unendliche Zahl anderer, die wir noch nicht erreichen können. Ich würde mir nicht zuviel Sorgen machen, Agentin Calna. Wir leben in einer Zeit neuer philosophischer Auswertungen, einer Zeit des Befremdens, einer Zeit unsichtbarer Türen, die man öffnen muß, damit wir sie durchschreiten können. Die ersten wilden Hunde, die sich den Urmenschen in ihren Höhlen angeschlossen haben, müssen bei den nächtlichen Feuern unruhige Träume gehabt haben. Und vielleicht, Agentin Calna, stehen wir auf unserer möglichen Skala der Evolution nicht höher als seinerzeit jene Hunde in Relation zu den Menschen, denen sie sich anschlossen. In diesem Augenblick gibt es vielleicht irgendeine unvorstellbare Intelligenz in ferner Zukunft, unserer Zukunft, die sich in das, was wir tun, einmischt, weil sie von den Folgen unseres Tuns betroffen ist. Eine solche Einmischung würde in Ihrem Bewußtsein und auch in dem meinem eine schwache Spur hinterlassen. Wenn wir einen fremden Raum betreten und das Gefühl haben, schon einmal in jenem Raum gewesen zu sein, kommt das möglicherweise daher, daß wir tatsächlich schon einmal in jenem Raum waren, in irgendeinem fragmentarischen Teil eines riesigen Experiments, das man später aufgegeben hat. Unser gegenwärtiges Handeln, dieses Gespräch, dieser Raum ... das alles könnte Teil einer künstlichen Umgebung sein, die man nur geschaffen hat, um Ihre Reaktion und die meine
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