TITLE
wo ich in London diese beiden Szenen gespielt. In Frankreich hatte ich gleichzeitig einen Vorteil und einen Nachteil. Die Sache war hier vollkommen neu und mußte folglich größern Effekt machen; da aber nur sehr wenige die englische Sprache verstanden, so mußte das Spiel meiner Physiognomie die Absicht des Dichters erraten lassen.
Zum Glück bedurfte die prachtvolle Wahnsinnsszene Ophelias keine Erklärung, so sprechend kann die sie begleitende Pantomime werden. Fast bei jedem Vers ward ich von Beifall unterbrochen, der aber, anstatt den Effekt zu erhöhen, denselben nur beeinträchtigen konnte. Talma kam deshalb meinem Wunsch entgegen und bat, daß man mich wenigstens ohne Unterbrechung die verschiedenen Stadien durchmachen lassen solle, welche die Szene darbietet. Ich dankte ihm durch eine Kopfbewegung, und ohne mich zu unterbrechen oder unterbrochen zu werden, fuhr ich fort bis zum Ende der ersten Szene, welche mit den Worten schließt:
»Gute Nacht, meine Damen, meinen Wagen.«
Nun aber brach ein förmlicher Beifallssturm los. Talma kam, indem er mich wegen dieser Vertraulichkeit um Verzeihung bat, auf mich zugestürzt und erklärte, ich sei keineswegs die Gesandtin von England, sondern die inkognito reisende Mistreß Siddons. Demzufolge küßte er mir die Hand. Beiläufig will ich hier eins bemerken, nämlich, daß nie ein großer Herr, wie ein Prinz oder König, der mir die Hand küßte, mir so viel Vergnügen machte, oder besser gesagt so große Ehre erzeigte, wie Talma in diesem Augenblick. Und Sir William begriff dies recht wohl, denn er faßte seinerseits Talmas Hand und drückte sie mit der Miene der innigsten Dankbarkeit. Ich entschlüpfte aus dem Saale, während man mich mit Ungestüm zurücklief. Man glaubte, der Auftritt sei zuEnde, Talma aber erklärte, daß erst die Hälfte aufgeführt und daß die noch übrige die malerischste und dramatischste sei. Ich wollte den Enthusiasmus meiner Bewunderer nicht kalt werden lassen und erschien fast sofort wieder mit meinem aufgelösten Haar, meinem Kranz von Maßlieben und Vergißmeinnicht und den wilden Blumen in meinem Schleier. Ich habe schon einmal die Wirkung geschildert, welche ich in dieser Rolle hervorbrachte. Man verzeihe meinem Stolze, wenn ich mich wiederhole. Es sind dies die einzigen Triumphe, welche keine Reue in mir zurückgelassen haben. Es war dies die reine Seite, die sich in mir Bahn brach; es war die künstlerische Flamme, welche mich mit ihrer Glorie krönte.
Warum hat Gott nicht erlaubt, daß ich in der Welt der Kunst lebte, anstatt in der Welt der Größe und des Glanzes? Es versteht sich von selbst, daß mein Erfolg das zweite Mal noch größer war als das erste Mal. Er endete mit einem förmlichen Streit, welchen Talma mit dem armen Ducis begann, den er beschuldigte, den Hamlet Shakespeares so entstellt zu haben, daß er nicht gewagt, die beiden Szenen, die ich soeben vorgeführt, darin aufzunehmen. Ducis schien gänzlich zu der Idee Talmas bekehrt zu werden, dennoch aber kam es mir vor, als wollte er seinen Hamlet lieber so lassen, wie er wäre, anstatt ihn nochmals von vorn anzufangen. Ebenso wie der Abbé Vertot war er mit seiner Belagerung fertig. »Ich hatte es Ihnen wohl gesagt,« wiederholte Talma. »Sie besitzen eine abscheuliche Wut, alles zu arrangieren. Es ist gerade so wie mit meinem Monolog, dem berühmten: ›Sein oder nicht sein,‹ welchen Sie mir vollständig verdorben haben. Wollen Sie vielleicht wissen, wie er im Englischen lautet, mein lieber Ducis? Schauen Sie her und hören Sie!«
Alle traten auf die Seite. Talma hielt sich ein paar Sekunden lang die Hand auf die Augen, um seiner Physiognomie Zeit zu geben, sich zu ändern. Dann ließ er langsam die Hand herabsinken, und mit träumerischer Stirn, stierem Auge und gesenktem Haupte begann er in englischer Sprache mit vortrefflichem Akzent jenes berühmte Verhör, wo das Leben den Tod zwingen will, ihm sein Geheimnis zu gestehen.
Talma war erhaben – O, wäre ich frei, wäre es mir erlaubt gewesen, meine goldene Kette zu brechen, wie würde ich gesagt haben »Nimm mich hin! Trage mich mit dir empor in die Höhe, wo du schwebst, und lass' mich nur an deinem Herzenwieder auf die Erde herabsinken.« Ach, leider hatte das Schicksal anders über mich verfügt. Verzeihe mir, mein Gott, daß ich nicht zu wählen, oder vielmehr, daß ich nicht zu warten wußte. Was kann es nützen, wenn ich den Rest dieses berauschenden Abends erzähle? Nach zweiundzwanzig Jahren
Weitere Kostenlose Bücher