Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Sofort.
Vielleicht ist es am besten, wenn ich mit dem Intimsten anfange, dann wird es stufenweise immer leichter und geht irgendwann wie von selbst. Und wenn ich schließlich beim Schnellkochtopf angekommen bin …
Noch immer arbeitet mein Kopf, aber mein Körper ist wie gelähmt. Vielleicht fällt gleich eine Atombombe auf Gießen, und die Sache hat sich von selbst erledigt. Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Die Couchgarnitur ist vielleicht doch eher aus den Siebzigern und hat Fransen. Der Lampenschirm hat die gleiche Bordüre. Kleine Kügelchen, die hin und her schaukeln, wenn auf der Straße ein Lastwagen vorbeifährt.
Einmal war ich in Frankfurt in der Wohnung meines jüdischen Freundes Elkan. Auch da dasselbe Mobiliar, sogar der Radiowecker und die Lithografie mit dem betenden Juden waren die gleichen. Wie bei uns, wie bei Zvi. Ich glaube, es roch genauso und es war genauso überheizt. Das nennt man jüdische Kultur. Mir ist übel.
Ich öffne den weißen Kleiderschrank. Der war am »verbotensten«, also ist er am persönlichsten, intimsten. Ich öffne ihn und erstarre: Meine Mutter hat wirklich nichts mehr weggeworfen. Nichts, was noch irgendwie brauchbar hätte sein können. Alles da. Alles gesammelt, geordnet. Immer schneller reiße ich Türen und Schubladen auf. Da. Guerlain – ihr Parfum. Sie ließ es sich schenken hier und da. 20, 30 Flaschen, in Zellophan verpackt in verschiedenen Größen, füllen die oberste Lade. Zigarettenschachteln, genug für einen florierenden Schwarzmarkt im Winter. Streichhölzer, Feuerzeuge für einen Weltkrieg. Tüten, Silberputzmittel, mehrere elektrische Bügeleisen mit Garantie. 100, 150 Pullover in Pastellfarben, sorgfältig gefaltet in Tüten mit Mottenkugeln. Ich höre auf, sie zu zählen. Bikinis, deren Muster mich an Brigitte Bardot erinnern. Überforderung macht sich in mir breit. Wo soll ich anfangen? Und wie? Wie kann sie so davongehen? Mich mit Quittungen von 1970 bis 2004 allein lassen! 34 Jahre Quittungen!
Ich begreife es nicht.
Das Zimmer meines Vaters wirkt, als wäre er noch quicklebendig und nur kurz außer Haus.
Seine Hemden sind frisch gebügelt, das Jackett in der Plastikhülle kommt aus der Reinigung. Auf seinem Schreibtisch liegen Kopien wichtiger Zeitungsmeldungen. Ich überfliege das Datum: Meine Mutter hat bis zu ihrem Tod aktuelle, kopierte Ausschnitte auf seinen Schreibtisch gelegt. Da gehörten sie hin … wer weiß, ob die Toten von oben nicht auch noch gerne Zeitung lesen?
Ich könnte einen Kaffee gebrauchen. Meine Mutter hätte in so einer Situation auch erst mal einen Kaffee gemacht. In der Küche wartet die kleine ausgespülte Espresso-Kanne arbeitsbereit auf mich. Ich sehe meine Mutter grinsend vor mir – in ihrem selbst genähten Nylon-Hauskleid.
Na? Überrascht? Hättest du wohl nicht von mir gedacht? Die Sammelwut? Weißt du, Kind, Freud hat auch gesammelt. Alles. Von wichtigen antiken Vasen bis zu Kleinkram aller Art. Alles – Feuerzeuge, Briefmarken, Bücher, Notizzettel. Warum soll ich es nicht auch tun? Es sind Erinnerungsstücke!
Ich bin hier auf ein Wespennest jüdischer Tradition gestoßen. Jede Quittung gibt mir Auskunft über das Gelebte, die Sehnsüchte, die Träume. Es wäre sinnvoll, alles durchzuarbeiten, zu katalogisieren und … im Jahre 2027 wäre ich fertig, 67-jährig. Könnte Auskunft geben über das Leben jüdischer Migranten der Nachkriegszeit, Vortragsreisen halten …
Der Espresso ist kalt.
Müllhaufen – Mülltüten – Müllcontainer.
Stunden und Stunden vergehen. Knietief in Badetüchern, Zeichenmaterial, Zeitungsausschnitten. Wegwerfen? Aufgeben?
Vor mir liegt eine Reihe von Papieren. Sie gehören alle zu meiner Mutter. Wie viele Dokumente ein Menschenleben so mit sich bringt. Ich ordne sie chronologisch:
11. 3. 1924 Geburtsurkunde, Zagreb
1. 9. 1930 Schülerausweis Evangelische Grundschule Zagreb
1941 Taufschein
1942 Lagerausweis Campo Porto Re, Kraljevica, Nr. 589
1943 KZ -Lagerausweis Nr. 100, Insel Rab
1943 Krankenschwesternausweis
9. 7. 1944 Amerikanischer Lagerausweis, Santa Maria al Bagno, Süditalien
1945 Ausweis der Antifaschistischen Jugend Zagreb
Beleg über den Erhalt von: 1 Hose, 1 Paar Stiefel, 1 blaue Bluse, Aufdruck: Tod dem Faschismus! Freiheit dem Volk!
1946 Studentenausweis der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, Fakultät Architektur
1952 Urkunde über das Diplom der Architektur
9. 7. 1964 Antrag auf Aufenthaltserlaubnis in Italien
23. 7. 1964 Verlängerung der
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