Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Menschen, störte sie. Aus Enttäuschung über das, was Menschen ihr angetan hatten, aus Ekel vor Jugoslawien, vor den jugoslawischen Faschisten ließ sie kein Heimweh aufkommen, so schien es. Es war, als wäre das Alleinsein ihre letzte übrig gebliebene Würde – ihre Bastion.
Was war meine kleine Einsamkeit gegen die der Überlebenden?
Meine Mutter fuhr mit ihrem Renault Clio, Modell Baccara, von Dorf zu Dorf. Der Clio war zwar klein, aber Luxusklasse, hatte Ledersitze und eine Holzarmatur. Hessen dagegen ist groß, zieht sich von Fulda bis Mannheim und ist noch dazu gespickt mit winzigen Dörfern.
Man hatte meine Mutter nach einer Thrombose im Auge frühpensioniert. Ein halbes Jahr war sie nicht zu ertragen, alle waren schuld an ihrem Schicksal. Das Essen schmeckte ihr nicht, die Witze meines Vaters fand sie schal, und dass ich das Abitur bestanden hatte, quittierte sie mit einem Kopfnicken. Wenn sie nicht arbeiten konnte, wollte sie lieber sterben. So hatte sie es im Osten gelernt: Nur wer arbeitet, ist ein ganzer Mensch. Ich weiß nicht, wer oder was sie auf die Idee brachte – aber eines Tages begann sie, systematisch die hessischen Dörfer zu durchforsten.
Sie fuhr immer allein. In jedem Dorf in diesem Ober-, Mittel- und Unterhessen gab es ein Landjudentum, das sie aufspürte. Landjudentum mit respektabler Synagoge, Mikwhe, Schul.
Sie wollte alle finden, fotografieren, katalogisieren. Und sie fand sie alle. In den Bibliotheken hatte sie sich zuvor ein genaues Bild vom Leben dieses Landjudentums gemacht, die Grundrisse der Dörfer studiert. Nun war es für sie ein Leichtes. Kaum erreichte sie ein Dorf, lief sie zielstrebig auf ihr Ziel zu. Sie fand die alten Gebetshäuser alle, auch wenn sie jetzt Ställe waren, Garagen, Wohnhäuser, Ruinen. Wie ein Spürhund, ferngesteuert.
Sie klingelte. Dann passierte alles Mögliche. Manche umarmten sie, schrien auf und weinten vor Glück, dass sie wieder zurück war aus dem KZ . Ihre Ruth, Rifka, Judith …
Andere schlugen ihr die Tür vor der Nase zu. Wohl aus demselben Grund. Und überhaupt, sie würden nichts hergeben, den Teppich hätte man ihnen geschenkt, die Thonet-Stühle sowieso. Meistens durfte sie fotografieren. Am besten nur von außen. Mit ihrer kleinen Minox.
Zu Hause katalogisierte sie alles, malte Grundrisse nach und hauchte den vergessenen Gebäuden Leben ein. Es hatte sie also gegeben – die Landjuden. Die armen Juden. Die Bauern. Hessen staunte und tat so, als sei es Jahrhunderte her, dabei waren gerade mal 50 Jahre vergangen.
Meine Mutter arbeitete 20 Jahre lang an ihrem Lebenswerk. Sie fuhr im Winter bei Glatteis, sie fuhr nachts. Sie sah schlecht und hatte Angst vor den Straßen und den Wetterverhältnissen. Aber sie fuhr. Sie durchkämmte das hessische Land mit der ihr eigenen Genauigkeit. Aus 264 hessischen Dörfern: 276 architektonische Beschreibungen und Bauhistorien von Synagogen und Bädern. Aus kiloweise Notizen: zwei Bücher. Die Frau, die ihr den Leuchter schenkte, der Alte, der sich mit ihr fotografieren ließ, die Droh- und Dankesbriefe. All das gehörte dazu. Die Politik ehrte sie schließlich, etwas peinlich berührt und erleichtert, dass jemand diese undankbare Aufgabe übernommen hatte. Die Kirchen luden sie zu Vorträgen ein, man behängte sie mit hässlichen Orden.
Und sie? Was war mit ihr? Warum tat sie das alles? Ein Gebiet durchkämmen, das so gar nichts mit ihr zu tun hatte, haben würde? Die minutiöse Detailansicht eines riesigen Desasters? Aufarbeitung? Trifft’s nicht. Berufsbedingte Neugier? Architektonische Werterhaltung? Nein. Reisefreude, Egomanie, Präzision? Die Toten ehren? Ihre Toten, die Vorfahren, Dorfjuden aus Bjelovar?
Im Gegensatz zu meinem Vater sprach sie nie von Jugoslawien. Sie sprach von »den Kroaten« und »den Serben« und zwei, drei Freunden. Das war’s. Nie vom Land, den Gerüchen, den Leuten, dem Meer. Den Toten. Sie doch nicht. Sie hatte kein Heimweh …
Ich habe mich geirrt. Hatte sie doch! Sie hatte schreckliches Heimweh. Sie fuhr durch Hessen, als sei es der Balkan. Und sie suchte nach den verlorenen Menschen, nach dem verlorenen Leben, als sei sie wieder zur Sommerfrische auf dem Land, bei ihrer Tante Alma und ihrem geliebten Onkel Marco. Natürlich. Sie war ein Gast geblieben. Nach vier Jahrzehnten. Wie viel »Gast-Sein« erträgt ein einzelner Mensch? Und wann möchte er dort, wo er ist, verwurzelt sein?
»Richte dich ein, als wär’s auf ewig«, sagt Raffi immer –
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