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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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der Jungs sehr geholfen: Statt mir mit ausgesprochen klugen Ratschlägen auf die Nerven zu gehen, wechselte sie den Verband, den der Mohel um den Penis gewickelt hatte. Sie kam täglich, bis alles so aussah, als sei es Gottes Wille … Ich sehe, sie macht sich Sorgen, weil ich da bin. Wie hübsch sie unter ihrem großen Strohhut aussieht. Ich schließe die Augen – wenn ich niemanden sehe, habe ich vielleicht Glück und keiner sieht mich …
    Verkehrte Welt. Man macht sich Sorgen, weil ich komme, nicht, weil ich so lange nicht da war. Ich mag den Kantor,er hat den weichen Singsang der sephardischen Juden. Obwohl ich nichts verstehe – oder gerade deshalb –, wirkt sein Gesang beruhigend. Er ist der einzige Sepharde, den ich in Berlin kenne. Einmal hat er mit meinem Vater zusammen spaniolische Lieder gesungen, sie wechselten sich ab. Sie klangen wie Jungs, die sich auf ihre Bar-Mizwa vorbereiten. Vermutlich wie damals, bevor er abtransportiert wurde. Ein »Thessaloniki-Jude«, sagt man über ihn. 1942 deportierten die Nazis die gesamte jüdische Gemeinde Thessalonikis mit einer Viehwaggonladung nach Auschwitz. Die Überlebenden kehrten 1945 gemeinsam nach Thessaloniki zurück. Aber dort wollte sie keiner mehr. Erst dann haben sie sich voneinander getrennt und in alle Winde zerstreut. Jetzt stampft er auf den Boden, sorgt für Ruhe – er ist eine Instanz. Es wird ruhiger und sein Grinsen lobt die, die sich fortan leiser unterhalten.
    Man erzählt sich, dass er schon in den 60er-Jahren in Ostberlin gesungen und dabei nach Herzenslust geschmuggelt habe. Wer kontrolliert schon einen Juden? Jeans und Gebetbücher habe er in den Osten gebracht, mit Kaviar und Wodka sei er wieder zurückgekommen.
    Heute ist sein Gesicht besonders rot und ich fürchte, er wird mitten im Gebet kollabieren. Am Ende wird er die Kinder zu sich hoch bitten, sie segnen und ihnen Schokolade schenken.
    Vielleicht bekomme ich heute auch eine Tafel? Ja! Er ruft mich – seine Hand liegt schwer auf meiner Schulter. Ich sage das Sabbatgebet, bedecke mit den Händen mein Gesicht vor dem zu starken Leuchten G’ttes, während ich versuche, die Lichter anzuzünden. Die Streichhölzer brechen immer wieder ab. Man gibt mir Ratschläge, was ich tun soll. Meine Mutter ist da. Sogar Mick Jagger. Er lädt mich ein, in seine Badewanne zu kommen. Ich möchte gerne, aber zunächst muss ich die Lichter anzünden. Die Schokolade schmeckt göttlich,ich habe sie mir wirklich verdient. »Komm«, sagt Marguerite, und ich reiße die Augen auf. »Es ist vorbei, du bist eingeschlafen.« Verlegen nehme ich meinen Mantel, aber es hat mir gutgetan. Ich sollte öfter in die Synagoge gehen.
    Ich finde keine Gründe mehr, um mich vor der Wohnungsauflösung zu drücken. Also mache ich mich auf den Weg nach Gießen.
    Vor einer Woche habe ich schon einen Versuch gestartet. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, kam aus Italien angereist, um mir zu helfen. Sie probierte alle Kleidungsstücke an und legte sie entweder ordentlich gefaltet in den Schrank zurück oder bestimmte sie für Italien. Ebenso ein paar dicke Teppiche und ausladende Sessel. Mir wurde klar, dass ich in einigen Jahren dort alles wiederfinden würde.
    »Wer wegwirft, ist ein Faschist«, sagte meine Tante, und das wollte ich natürlich nicht sein. Nicht vor ihren Augen.
    Meine Tante war nicht zur Beerdigung meiner Mutter gekommen. Sie lebt in Mantua, dort war ein milder Herbst, und sie fürchtete, sich in Deutschland zu erkälten. Beerdigungen sind generell nicht gesundheitsfördernd und ab einem gewissen Alter wahrscheinlich sogar schädlich. Meine schöne Tante Jelka, die ich seit Kindertagen »Teta Jele« nenne, ist 90 Jahre alt, und noch immer drehen sich alle nach ihr um. Sie ist die Personifizierung der k. u. k Monarchie. Anmut und Schönheit, Stolz und vollendete Haltung stehen in beneidenswerter Konkurrenz. Sie ist die eigentliche Kapazität auf dem großen Feld der Familienlegenden. Meistens lächelt sie, wobei ihr schöner Kopf vorsichtig hin- und herschaukelt. Sie hat früh zu flüstern gelernt, um ihren cholerischen, herzkranken Vater, meinen Großvater Sigismund Fuhrmann, nicht aufzuregen und ins Grab zu stürzen.
    Als ich sie anrief, um ihr von der Beerdigung ihrer Schwester Bericht zu erstatten, flüsterte sie: »Sie sind weg!«
    »Wer, Tante, wer ist weg?«
    Bei solchen Ausbrüchen fühle ich mich sofort wie im Internierungslager, und alles, was ich über die Spätfolgen des Krieges weiß,

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