Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
israelischen Botschaft in die Philharmonie eingeladen worden, gleichzeitig auch zur Gedenkveranstaltung im Gemeindehaus. Ich habe alle Termine mit schlechtem Gewissen abgesagt. Um das Mahnmal herum soll eine Fressmeile gebaut werden, für die müden hungrigen Touristen.
»Die Realität hat uns überholt«, sage ich zu Tine. Wir sitzen in der Theaterkantine, die nachmittags zwischen den Proben und den Vorstellungen fast romantisch wirkt. Fast. Das Essen bleibt kalt und fettig. Wir haben »Trauer to go« überlebt, da wird uns ein Kantinenessen nicht gleich umbringen. Außerdem haben wir harte Kritiken zu verkraften. Die jüdische Presse freut sich, lobt unseren Witz, die deutsche macht uns nieder. Die Kritiker fühlen sich in ihrem Trauerkodex, in dem sie sich schon so gemütlich eingerichtet hatten, missverstanden. Man will sich das vorbildliche Trauern nicht einfach nehmen lassen, sich nicht in die so sorgfältig zubereitete Trauersuppe spucken lassen, noch dazu von einer Jüdin. Wo gibt’s denn so was? Was soll man mit ihnen anfangen? Nach Israel wollen sie ja auch nicht!
Tine holt sich eine große Colaflasche. Sie ist mit Abstand die westlichste meiner Ostfreundinnen. Sie erzählt mir den neuesten Theaterklatsch, ich gebe ihr einen Bericht über die abenteuerliche Beerdigungspraxis im modernen jüdischen Leben.
»Erst stirbt mein Vater, kurz danach meine Mutter. Nun gut, das kommt vor. Dann benötigt Hessen 48 Stunden, um den Tod festzustellen, während die Juden überhaupt nur 24 dafür gestatten. Raffi behauptet ja, es sei nicht einfach, als Jude in Deutschland zu leben. Ich finde, als Jude in Deutschland zu sterben, viel mühsamer. Aber findest du es normal,dass meine Eltern über Jahrzehnte hinweg nichts weggeworfen haben? Dazu hatte mein Vater eine Handvoll Geliebte, die mir immer noch schreiben, ich habe eine Halbschwester, die nicht alle Tassen im Schrank hat, und mindestens einen Bruder, den ich nicht kenne …«
»Ich finde, du sammelst Aufgaben wie andere Leute Briefmarken oder Autogramme.«
Was meint sie, die jüdische Beerdigung, das deutsche Mahnmal oder keines von beiden? Den Müll der letzten dreißig Jahre oder den vielleicht existierenden Bruder?
»Ich sammle doch gar nicht. Es ist der Alltag, der sich immer wieder in mein Leben drängt«, verteidige ich mich.
Müde strecke ich mich auf der Kantinenbank aus.
Na ja. Wahrscheinlich hat sie sogar recht. Obwohl ich mich gänzlich unschuldig fühle. Was kann ich dafür, dass in meiner Familie so lebhaft gestorben wird?
Im Kopf mache ich mir eine Liste der zu erledigenden Dinge, schnell, bevor es noch mehr werden:
Grabstein – Da geht es schon los, was schreibt man drauf? Ich kann kein Hebräisch. Es ist aber Pflicht auf jüdischen Friedhöfen. Schreibt man groß oder klein? Welche Form und Farbe? Könnte ich die Buchstaben einfach vom Nachbargrab abpausen? Diese Aufgabe hatte meine Mutter bei meinem Vater wunderbar erledigt. Hätte ich nur besser aufgepasst! Dass so große Dinge so banale Fragen aufwerfen.
Wohnungsauflösung – Bei meiner Stauballergie wird es eine rundum heikle Angelegenheit. Aber das Hessische Staatsarchiv klopft schon an meine Tür wegen des akademischen Nachlasses. Kaum ist man tot – schon museal.
Gegebenenfalls Bruder bzw. Brüder suchen … wenn überhaupt.
Mit Schwester Testament vollstrecken. Wird sich hinziehen.
Das sind keine Aufgaben. Das sind Lebenswerke. Früher oder später werden sie mich lachend unter sich begraben. Am besten, ich lege mein schweres Haupt auf den Kantinentisch und stehe erst 2017 wieder auf.
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»wer wegwirft, ist ein faschist«
Ganz leise habe ich mich auf die Empore der Synagoge geschlichen. Die Vorsicht ist völlig unnötig, denn der Grundlärm ist erheblich. Außerdem kommt hier sowieso keiner unbemerkt auf seinen Platz. Man nickt mir zu im Sinne von »Muss erst deine halbe Familie sterben, bevor du dich hierher bewegst?«. Ich nicke beflissen zurück. Soll ich wieder gehen? Ich weiß selbst nicht, warum ich gekommen bin. Links von mir eine ganze Reihe braver Beterinnen. Mindestens die Hälfte sind Übergetretene. Ihr Ernst ist zu offensichtlich, sie tun mir fast ein wenig leid. Ob sie es jemals schaffen, anerkannt zu werden? Unwahrscheinlich.
Vor mir eine orthodoxe Mutter mit ihren Töchtern. Jede Bewegung ist ihnen geläufig. Wie in Trance absolvieren sie ihren Parcours. Mein Blick bleibt gegenüber bei Marguerite hängen. Sie ist Ärztin und hat mir bei der Beschneidung
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