Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Aufenthaltserlaubnis in Italien
22. 11. 1965 bis 21. 11. 1966 Arbeitserlaubnis in Konstanz, Bundesrepublik Deutschland
22. 3. 1966 Beantragung politischen Asyls in der BRD
2. 4. 1968 Beantragung eines Vertriebenenausweises der BRD
1969 Der Antrag wird zurückgewiesen
1970 Urkunde über den Erhalt der Deutschen Staatsbürgerschaft
1986 Bundesverdienstkreuz
1992 Ehrendoktorwürde der Universität Gießen
1996 Hedwig-Burgheim-Medaille der Stadt Gießen
Wofür ein Mensch so alles Ausweise bekommen kann. Und wie viele! Und alle hat meine Mutter sorgfältig gesammelt. Eine Art Beweisführung. Wofür? Als Existenzberechtigung? Als Beweis dafür, wie ein Mensch, ohne es zu beabsichtigen, in das Räderwerk der Geschichte geraten kann?
Statt Geschichtsunterricht sollte man Wohnungsauflösungen als Pflichtfach einführen.
Was für ein Leben! Wie klein und eindimensional mir meines erscheint. Wenn ich jetzt tot umfiele – was in Anbetracht dieser Massen an Erinnerungsstücken durchaus möglich wäre –, hätte ich nur einen einzigen gültigen Ausweis vorzuweisen: Den deutschen. Und meinen Fahrtenschwimmer. Und den Führerschein. Wie langweilig. Schnell presse ich die Papiere in zwei alte hellbraune Koffer. Irgendwann werde ich sie wieder rausholen, erneut durchgehen, verstehen. Vielleicht.
Schluss für heute. Ich schaue nur noch in einen letzten alten Umzugskarton. Er ist bis oben hin voll mit durchnummerierten Briefumschlägen, auf denen steht: RESTITUTION BESITZ ZAGREB 1-20. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich weiß, dass meine Mutter sich sehr mit diesem Thema beschäftigt hat. Aber ihre Gründlichkeit habe ich mal wieder unterschätzt. Die mache ich jetzt bestimmt nicht auf. Sicherheitshalber werde ich sie mit nach Berlin nehmen.
Etliche Tage und Kaffeepausen später arbeite ich mich immer noch durch die Wohnung, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, erschöpft, aufgewühlt und stinksauer. Was wäre so schlimm daran gewesen, wenigstens ein bisschen was wegzuwerfen? Ich beschließe, die Dinge aus ihrem Arbeitszimmer für die Nachwelt zu erhalten. Und so erscheint im müden Frühnebel eines November-Donnerstags zunächst ein Container des Hessischen Hauptstaatsarchivs und packt die wissenschaftliche Seite meiner Mutter ein, um sie einzulagern. Ich habe zeitlebens Zugang zu dem Magazin, Abteilungsnummer 1245.
Bleibt noch ihr fast fertig geschriebenes Buch »Synagogen und Ritualbäder in Hessen. Was geschah seit 1945?«. Mir ist völlig unverständlich, wie sie sterben konnte, ohne es fertig geschrieben zu haben. Das passt so gar nicht zu ihr. Wo man doch immer bei Tolstoi und seinen Kollegen liest, dass erst gestorben wird, wenn alles erledigt ist. Hier liegt eindeutig ein Versehen vor.
Am selben Novembernachmittag packt schließlich der Verlag alle nötigen Fotografien, Zettel und Notizen ein, um das Buch noch vor der Buchmesse im nächsten Jahr fertigzustellen. Die Idee einer posthumen Veröffentlichung hat etwas Beruhigendes, obwohl sie mit der Vorstellung kokettiert, dass der Tote von einer Wolke aus zusieht und sich freut …
Wolke hin oder her: Der letzte Akt. Dinge, die zum Wegwerfen zu schade, zum Mitnehmen zu viel, aber von fatalem sentimentalem Wert sind: Glaslampen aus Murano, alte, schöne stehen gebliebene Uhren, gefärbte Postkarten aus Capri und Pietra Ligure. Was tun damit?
Wie wäre es, wenn ich einen Flohmarkt hier in der Wohnung organisiere und alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde einlade? Die Bedürftigen könnten sich ungestört bedienen, die anderen könnten sich eine Erinnerung an die Begründer ihrer Gemeinde, an ihren Vorstand aussuchen.
Meine Eltern liebten Flohmärkte! Die Idee ist hervorragend.
Sofort laufe ich in das Gemeindezentrum, das sich praktischerweise in unmittelbarer Nähe der Wohnung befindet. Am schwarzen Brett hinterlasse ich folgenden Aushang:
»Sonntag Gedenkflohmarkt bei Familie Altaras, 13 h. Bitte kommen Sie zahlreich. Die Tochter Adriana«.
Voller Elan platziere ich in den nächsten beiden Tagen die kleinen und großen Erinnerungsstücke. Manches stelle ich ins Licht, anderes ins Halbdunkel. Es sieht wunderbar aus. Die ganze Wohnung ein Flohmarkt.
Dann setzte ich mich in den Flur und warte. Warte und warte. Es ist Sonntag 13 Uhr, aber niemand kommt. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde lassen sich Zeit. Vielleicht hätte ich den Text auch auf Russisch verfassen müssen? Und wenn nun wirklich niemand kommt? Wenn Unbehagen vorherrscht, sie sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher