Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
leuchtet in meinem Hirn rot auf.
»Die Manschettenknöpfe deines Onkels! Mit seinen Initialen G. M. für Giorgio Motta – weg! Ich hatte sie aus dem Safe herausgenommen und unters erste Kissen des roten Sofas gelegt. Dann kam die Post, und ich habe sie in der Eile dort vergessen. Als ich ein paar Tage später nachschaute, waren sie weg! Stattdessen sind zwei billige Manschettenknöpfe da, ohne Initialen, aus Blech! Man hat sie vertauscht. Verstehst du? Man ist wieder eingebrochen und hat sie vertauscht. Den Verdacht habe ich schon lange, dass man bei mir ein- und ausgeht.«
Sie hatte sich in Rage geredet und schwankte nun zwischen Kroatisch und Italienisch ohne Punkt und Komma.
»Und das Verrückteste ist, die Uhr und die Ringe, die danebenlagen, haben sie dagelassen. Kannst du dir das vorstellen, was für Mistkerle das sind? Verbrecher, echte! Ich wünschte, ich wäre tot. So ein Verlust. So ein unersetzbarer Verlust. Kannst du dich erinnern, die silbernen Leuchter?«
»Natürlich kann ich, sie stehen sauber geputzt auf der Kommode.«
»Nun, diese Leuchter gehörten schon damals in unser Haus. Als wir Hals über Kopf fliehen mussten, ließen wir sie bei Teta Katha. Sie vergrub sie in ihrem Garten. Nach dem Krieg haben wir sie zusammen ausgegraben. Sie war eine der wenigen Anständigen. Vielleicht die Einzige. Sie hat uns alles wiedergegeben. Aber die hier sind Verbrecher, wie alle anderen damals, wie alle …«
Ich kann meine schöne Tante Jelka in solchen Momenten nicht trösten. Dann rechnet sie die Vergangenheit in Silber auf. Aber sie ist und bleibt die Verliererin, die Vergangenheit ist eben jetzt.
Bei der Wohnungsauflösung war sie mir keine wirkliche Hilfe. Sie hatte ihren Hund mitgebracht, er hinkte. Sie würde augenblicklich Tabletten nehmen, wenn ihr Yorkshire Terrier sterben sollte. Ich bat sie, es nicht zu tun. Würde sie sterben, wäre ich völlig allein mit unserer Geschichte. Es gäbe keine Beweise mehr für das, was passiert ist. Ich würde anfangen zu glauben, dass es den Holocaust nie gegeben hätte. Das sah sie ein und ging zum Tierarzt. Dieser verabreichte dem Hund und ihr ein paar Tabletten. Ich bekam auch einige davon ab und es ging uns allen besser. Nach weiteren zwei Tagen dieser Art setzte ich meine Tante in den Zug nach Italien und vertagte erschöpft die Aufräumarbeiten.
Jetzt, eine Woche später, werde ich allein und mit neuem Elan problemlos die Wohnungsauflösung hinter mich bringen. Systematisch, unsentimental und schnell. Im Nu. Pro Tag ein Zimmer, wenn’s schlecht läuft, vielleicht mal zwei Tage und in 10 bis 14 Tagen wird die Wohnung meiner Eltern leergeräumt sein. Alles eine Frage der Strategie. Wenn man sich nur anstrengt und ordentlich zusammennimmt, dann wird das schon. – Mülltüten, große, feste. Ein Umzugsunternehmen. Nachlassauflösung, so heißt das. Zusammenreißen und los geht’s …
Die Ampel schaltet auf Grün. Der Blick aus dem Fenster ist immer noch derselbe. Derselbe wie damals, als sie noch putzmunter waren. Der Blick auf die sechsspurige Straße, der Blick auf den winzigen Rasenfleck und auf die Ampelanlage in Gießen. Gießen ist keine besonders schöne Stadt, komplett zerbombt, schnell und billig wieder aufgebaut. Aber einen trostloseren Flecken zu finden als den, auf dem unsere Wohnung steht, ist selbst in Gießen schwierig. Auf der Vorderseite die sechsspurige Straße, auf der Rückseite schließen an die Hausmauer Bahngleise an. Rechts ist die Feuerwehr, links ein Bordell. Ich starre auf die regennasse Straße. Die Ampel wirdrot. Ich tue nichts. Ich höre den ICE Kassel–Frankfurt vorbeidonnern, im Rücken die Wohnung. Die Wohnung meiner Eltern.
Bei den Eltern meines Freundes Zvi sah es genauso aus. Neubau aus den 60er-Jahren, an einer stark befahrenen Straße. Schwere Sesselgarnitur, Geiger-Lithografie, Menora in der Vitrine, Holocaust-Literatur im Bücherregal. Ob sich die jüdischen Rückkehrer abgesprochen hatten? – Wenn wir schon unsere Villen nicht zurückbekommen, dann wollen wir nur in klaren, pragmatischen Wohneinheiten überleben.
Wenn ich nicht bald anfange, wird meine Statistik darunter leiden. Die Ampel wird von Rot auf Grün schalten, und ich werde keines der Zimmer berühren. Nicht einen, nicht zwei, nicht zehn Tage lang. Es ist mir peinlich. Es ist zu intim. Sterben ist einfach zu intim. Und die Dinge der eigenen Mutter zu ordnen ist unerträglich intim. Jetzt! Beim nächsten Umschalten der Ampel fange ich an.
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