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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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trauen, den Stuhl ihres ehemaligen Vorsitzenden mitzunehmen? Das Brillenetui aus Samt? Das bronzene Männeken Piss?
    Um halb vier kommen die Ersten. Sie sind ausgesprochen höflich und vorsichtig. Wir alle sind schrecklich verlegen. Ich rede ihnen gut zu. Sie verschwinden allmählich in den Zimmern.
    Eine dicke Frau erreicht schwitzend den zweiten Stock.Nein, sie wolle nichts, ihr Deutsch sei auch sehr schlecht. Ich bitte sie, sich zu setzen. Nein! Nein! Sie wolle nichts, nur etwas vorlesen! Unter Tränen liest sie: »Der Glick, das ich habe bekommen mit Vorsitz von Ihre Frau Mutter. Ohne sie ich wäre noch Sowjet und das gar nicht gut!« Wir weinen.
    Die Nächsten sind die Guttmanns: »Herzliches Beileid. Gibt’s was Elektrisches?« Ohne die Antwort abzuwarten, erreichen sie die Rotlichtlampe. Ich bin erleichtert, niemanden zu enttäuschen. Eine orthodoxe Familie beschwert sich über die Möbel. Nicht modern genug, findet der Sohn, der sich weigert, mir die Hand zu geben. Ich sei nicht koscher genug. Ich bitte um Entschuldigung für mich und die Möbel. Sie schnappen sich die hölzerne Miniatur des christlichen, kroatischen Nationalhelden Ninski und schwören, es sei Moses. Bin ich froh! »Echt jüdisch«, stammele ich, »koscher und modern!« Kein Durchkommen mehr. Jüdische Russen, russische Juden. Der Markt floriert. Am späten Abend ist fast alles weg. Als hätte sich ein Heuschreckenschwarm durch die Räume gefressen.
    Wieder einmal hocke ich auf dem Boden, auch die Stühle sind weg, ich bin traurig und maßlos erleichtert, hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Aschenbecher aus Bakelit, eine Ente aus Muranoglas einem das Herz brechen können …
    Ich warte, während die Ampel vor dem Fenster regelmäßig von Rot auf Grün schaltet.
    Ich warte, dass mein Vater um die Ecke blickt, grinst und fragt: »Den Kaffee mit drei Stück Zucker? Oder haben sie den Zucker auch mitgenommen?«

[Menü]
    heimweh
    Die ersten Wochen zurück in Berlin als »Vollwaise« meistere ich bravourös. Nur selten greife ich zum Hörer, um dies oder jenes mit meinen Eltern zu besprechen. Sie wiederum reden mir kaum rein, nur ab und zu nachts, aber vielleicht ist Schlafen sowieso enorm überbewertet.
    Trotzdem fehlen sie mir, auf eine unspezifische Weise.
    Meine Astrologin ist dünn und lang, etwa in meinem Alter. Bei der Arbeit verwandelt sich ihr Gesicht, und sie gleicht einem Tiger, der auf Beute lauert. Während sie in ihrem dicken zerfledderten Buch die Zahlen fixiert, raucht sie eine nach der anderen. Sie sagt die traurigsten Dinge, aber in Anbetracht dessen, dass sie im Firmament eingebettet sind, wirken sie tröstlich.
    »Was ist so schlimm an Einsamkeit?« ist ihr Fazit.
    Ich kann es ihr nicht genau beantworten. »Nichts, glaube ich. Nur ein wenig ungewohnt vielleicht.«
    Die Raubtieraugen starren mich an. Ich gebe ihr 100 Euro für ihre Hilfe.
    Einsamkeit. Ich habe häufig versucht, mit meinen Eltern und meiner Tante über Einsamkeit zu sprechen. »Wie war das, plötzlich im Lager, alles aufgeben zu müssen? Herausgerissen zu sein, aus einem behaglichen Leben mit Freunden und Familie? Die Verhältnisse dort? Das Elend? Und bei den Partisanen? Hattet ihr Angst? Und nach dem Krieg, und die Toten?« Meistens wichen sie mir aus. Fanden meine Fragereikindisch. Gelegentlich erzählten sie, eher aus Versehen. Mein Vater, der stolze Gockel, schien Einsamkeit nicht zu kennen. Er sprach immer nur vom Widerstand in den kroatischen Bergen, von der Partei, von den Frauen. Frauen liefen ihm seit jeher nach, und er ließ sie ungern stehen.
    Aber Split, die Stadt seiner Kindheit und Jugend, die Stadt am Meer, fehlte ihm unendlich. Sein Heimweh war groß. Jedem Besuch oder Bericht aus der Heimat fieberte er entgegen. Seine Einsamkeit war sein Heimweh.
    Meine Tante war mit 21 ins Lager gekommen, als wunderschönes junges Mädchen. Und so wie sie in das Lager hineingegangen war, kam sie wieder heraus. Sie blieb zeitlebens das Mädchen von 21 Jahren – in Stimme, Haltung und Gefühl. Sie hatte sich in einen Kokon aus Unberührbarkeit eingesponnen, und die Einsamkeit einer jungen Frau, die ihre Jugend verloren hat, verließ sie nie mehr. Sie bekam nie Kinder.
    Meine Mutter schloss Türen mindestens dreimal ab, verriegelte die Fenster, ließ nachts das Licht brennen oder den Fernseher laufen. Auch sie hatte der Krieg verstört zurückgelassen. In ihrer Einsamkeit suchte sie das Alleinsein. Und die Bücher. Alles andere, vor allem

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