Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
mehreren Sprachen. Er wurde eine Koryphäe auf seinem Gebiet, war dabei von unschlagbarem Charme und Humor. Eine große Figur aus einem großen Epos vor bewegtem geschichtlichen Hintergrund, denke ich. Eine Art »Dr. Schiwago«, für den ich immer genauso geschwärmt habe wie für Dr. Altaras, meinen Vater.
Sein Imperium war großzügig angelegt. Von der MTA , die in aller Herrgottsfrühe bei ihm einen Cappuccino bekam, bis zum diensthabenden Nachtarzt, der am Abend zu einem Espresso eingeladen wurde. Er verteilte seine Aufmerksamkeiten und sein Lob sehr generös. Ein Pate, der mit Geschenken nicht geizte. Dafür erfüllten sie ihm jeden Wunsch, halfen, wo sie nur konnten. Aber etwas hat er nicht erreicht: Er ist nicht Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland geworden. Stattdessen hatte er immer einen vor der Nase, den er politisch verabscheute. Der ihn wieder zum Partisanen machte. Dem Landesverband Frankfurt und somit indirekt dem Zentralverband der Juden in Deutschland, der nichts dagegen tat, warf er dreckige Machenschaften vor: Veruntreuung von Wiedergutmachungsgeldern. Zu Recht, wie sich später herausstellen sollte. Jahrelang ging er gegen den Verein gerichtlich vor. Man warf ihm Nestbeschmutzung vor. Es dauerte lange, bis sich ein deutscher Rechtsanwalt fand, der den Mut hatte, einen internen jüdischen Fall zu behandeln. Aussichtslos. Mein Vater verlor, der Fall wurde zu den Akten gelegt. Verbittert zog er sich zurück.
Er musste sich mit Gießen abfinden, das nicht gerade der Nabel der Welt ist. Seinem großen politischen Ehrgeiz wurde Einhalt geboten. Genau genommen bereits im Sommer 1964, als er die glorreiche Armee des Genossen Tito verlassen musste.
Am nächsten Morgen geht es nahtlos weiter. Ich packe Kiste um Kiste. Meine Schwester ist mit dem Puzzle fertig und blättert nun aufmerksam in allen möglichen Papieren. Ich bemerke, dass sie ungewöhnlich lange auf ein Foto starrt, aber als ich sie danach fragen will, werde ich durch das Telefon abgelenkt und später vergesse ich es. Eigentlich kenne ich sie gar nicht, meine Halbschwester. Sie ist 14 Jahre älter als ich. Als ich klein war, war sie pubertär. Nichts passte zusammen bei uns. Sie war in Zagreb geblieben. Zurückgeblieben und zu kurz gekommen. Von Zürich aus schickte mein Vater ihr Schweizer Franken nach Zagreb. Meine Schwester investierte die schönen Schweizer Franken, die für ihre Ausreise bestimmt waren, in einen Kühlschrank und einen Lada.
Mein Vater war der erfolgreiche Professor im Goldenen Westen. Aber er war auch der Vater, der sie zurückgelassen hatte. Man traf sich mit ihr von Zeit zu Zeit in Triest, tauschte Geschenke aus, sie erhielt monatliche Devisen, eine Eigentumswohnung, das war’s. Eigentlich freute ich mich immer, wenn wir uns trafen. Wir wollten uns mögen. Aber dann verstand ich ihre kroatischen Lieder, die sie abends am Strandauf der Gitarre begleitete, kaum, sie sah mir ihrerseits mit großen, verständnislosen Augen zu, wenn ich ihr 10-strophige, traurige deutsche Volkslieder vorsang.
Und jetzt, vierzig Jahre später, ist meine Schwester eine gestandene Kroatin, sitzt nun schon seit zwei Tagen auf dem Teppich des Arbeitszimmers und sammelt intime Reliquien meines Vaters, während ich ihr in meinem gebrochenen Exjugoslawisch nicht einmal sein Testament erklären kann. So sieht’s aus in meinem Europa.
Während ich die Unterlagen sortiere, geht gelegentlich die Tür auf, auf der noch das Schild »Oberarzt für Radiologie« klebt, und diverse Frauen kommen vorsichtig herein. Sie schauen mich an, setzen sich dann zögernd auf die Ledercouch der Arztzimmer-Garnitur. Ich lehne mich an den Schreibtisch, verschränke die Arme, warte. Dann bricht es aus der Ersten heraus: Sie war die Geliebte meines Vaters. Ihr Make-up ist von Tränen verschmiert, ich reiche ihr ein Taschentuch. Die Zweite, lange, blonde Haare, ist ungefähr in meinem Alter. Sie hält sich für die Einzige, schwärmt von meinem Vater: »Ein wunderbarer Mann.« Bei der Dritten hat mich eine gewisse Routine eingeholt. Ich nicke ihr beruhigend zu und biete ihr einen Espresso an. Meine Schwester lächelt wissend, verschlagen. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass sie weitaus mehr Deutsch versteht, als sie zugibt. Sie raucht seelenruhig weiter, nippt an ihrer Kaffeetasse. Ich habe sie einmal in Zagreb an ihrem Arbeitsplatz in der Rentenanstalt besucht: Sie saß dort in einem kleinen, chaotischen Büro zwischen Stapeln von Akten,
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