Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Brigaden im Krieg die Möglichkeit zum Widerstand bekommen, und natürlich gab es späterin der Partei genügend ambitionierte Juden in hohen Funktionen, allen voran Moshe Piade! Aber parteiinternen Antisemitismus gab es trotzdem. Nach außen hin blieb Tito der große Sieger, der alle Nationalitäten, Abstammungen und Religionen unter seiner schützenden Hand zu bündeln wusste. Unter ihm konnten wir mehr oder weniger unbehelligt leben. Mehr oder weniger …
Jedes Mal, wenn ich das in einer Gesellschaft erzähle, gibt’s ein großes »Ah« und »Oh«. »Sag bloß, habe ich noch nie gehört, ehrlich? Bist du dir da sicher?« Je mehr Intellektuelle zusammensitzen, desto lauter die Verwunderung. »Was ist daran so merkwürdig?«, antworte ich dann. »Antisemitische Säuberungen gab es in jedem kommunistischen Staat, nur waren sie in Polen früher und extrem heftig und in Tschechien später, aber auch nicht ohne. Und in der Sowjetunion hatte Stalin ein besonderes Faible für Schauprozesse.«
Im Sommer 1964 wird der Schauprozess gegen meinen Vater angestrengt. Es ist abzusehen: Dies ist das Ende der Karriere eines jüdischen Arztes in Jugoslawien. Meine Eltern fliehen – oder besser: Sie versuchen es. Ich erinnere mich, wie nervös alle in unserem Wohnzimmer herumsaßen. Ich war klein, aber an die Panik kann ich mich noch sehr gut erinnern. Mein Vater verschwand mit einem Koffer, in dem er vor allem schwere Schellackplatten mitschleppte: Opern, Benjamino Gigli, Caruso, Zenka Milanov. Es war Hochsommer und sehr warm. Er ging nach Zürich.
Meine Mutter schaffte es nicht. Die Behörden hatten von der Flucht meines Vaters erfahren, entzogen ihr den Pass und behielten sie als Druckmittel in Jugoslawien. Ich wurde von meiner Tante, der Schwester meiner Mutter, nach Italien geschmuggelt.
Meine Mutter blieb allein in Zagreb zurück und hatte ein langes Jahr Zeit, mit der kommunistischen Enttäuschung fertig zu werden. Sie war ein glühendes Mitglied der Partei gewesen, und ebenso glühend wurde nun ihr Hass. Sie habe eines Morgens das rote Parteibuch und ihre roten Handschuhe der Partei gleichzeitig auf den Tisch geknallt. So ist die verkürzte Fassung der Legende. Aber ich weiß, es war sehr schmerzvoll für sie, sie hat mächtig daran zu knabbern gehabt.
Währenddessen versuchte mein Vater, in Zürich Fuß zu fassen, lernte Deutsch oder das, was die Eidgenossen dort für Deutsch hielten. Er wiederholte die Doktorprüfung – auf Schwyzerdütsch. Sie ließen ihn probehalber auf die Verfassung schwören, aber Schweizer wurde er nicht, sein Schwyzerdütsch war offenbar nicht ausreichend.
Was mich angeht, war 1964 auch ein aufregendes Jahr: mein erster Film, mein erstes Exil. Ich war gerade mal vier.
Ich starre auf meine Schwester. Sie trinkt nicht nur ununterbrochen Espresso, sie raucht auch Kette. Der Sozialismus ist doch etwas recht Spezielles, denke ich. Sie legt versonnen ein 750-Teile-Puzzle vom Zürisee, das sie zwischen den Andenken meines Vaters gefunden hat. »Das hat er mir mitgebracht«, will ich eifersüchtig sagen, kann mich aber gerade noch zurückhalten. Und überhaupt, wie kann man in solch einer Situation ein Puzzle legen? »Du bist hyperaktiv, ich trauere.« Mit diesen Worten reicht sie mir die tabellarische Vita meines Vaters herüber und macht ernst und eifrig weiter mit dem Puzzle.
1966 wiederholtes Staatsexamen Zürich Universitätsklinik
1967 Antrittsvorstellung als Oberarzt in Gießen
1969 Außerplanmäßige Professur Humandiagnostik
1970 Beamter auf Lebenszeit
1970 Deutsche Staatsbürgerschaft
1973 C3-Professur
1984 Ruhestand
1985 Bundesverdienstkreuz
1998 Ehrenplakette der Landesärztekammer
Mein Vater hat Erstaunliches geschafft. Aus dem kleinen Straßenjungen aus ärmlichen Verhältnissen ist ein deutscher Professor geworden, ein Beamter auf Lebenszeit. Ein Mann mit Pension und Mercedes. Er entwickelte eine neue Methode zur Früherkennung von Darmkrebs, die sogenannte Doppelkontrastmethode, hielt Kongresse auf der ganzen Welt ab. Besonders in Italien feierte man seine wissenschaftlichen Erfolge. Es gab legendäre Mittagessen, zu denen an die zwanzig junge italienische Ärzte aus allen Regionen angereist kamen, um von ihm zu lernen. Er unterrichtete und unterhielt sie mit Fachwissen und Witzen. Weiterbildungen für europäische Ärzte wurden in Gießen abgehalten. Schon bald rühmte sich die Universität, führend in der Frühdiagnostik von Krebs zu sein. Zahlreiche Publikationen in
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