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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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geordnet nach einem System, das nur sie kannte. Sie saß und rauchte. Es ist ihr offenbar relativ gleichgültig, in welchem Teil Europas sie in einem Büro sitzt und raucht …
    Mit der ersten Geliebten gibt es ein gemeinsames Konto bei American Express, mit der zweiten eine Wohnung am Stadtrand von Gießen. Die Dritte ging mit auf die Vortragsreisen. Auf einen Zettel schreibe ich mir: »Wohnung, Konto auflösen, Vortragsreise absagen! Nicht vergessen!!!«
    Ich muss zugeben, so abgeklärt, wie es wirken mag, bin ich nicht. Nach jeder Frau, die den Raum verlässt, muss ich mich kurz erholen. Ich atme tief durch und lasse den Gedanken zu mir durchdringen: Mein Vater hatte Geliebte! Nicht eine, sondern mehrere! Und parallel. Die Geliebten waren in meinem Alter, eine sogar deutlich jünger. Es ist verstörend, geräuschlos bricht in meinem Inneren das Bild meines Vaters in sich zusammen und neue Bilder tauchen auf. Zum Beispiel sein Gebiss, das knirscht, wenn die junge Frau ihn küsst … Allzu genau will ich es mir gar nicht vorstellen. Es beeindruckt mich, wie mühelos mein Vater mehrere Leben nebeneinander geführt haben muss.
    Die Dritte bringt sogar Geld zurück, das mein Vater ihr angeblich für die Erziehung ihrer Tochter gegeben hat. – Wenn es sein Wille war? Ich gebe es ihr zurück. Dann gibt sie es wieder mir, und so geht das eine ganze Weile hin und her. Weinend geht sie schließlich mit dem Umschlag davon. Schnell schreibe ich auf meinen Zettel: »Vorsicht bei Wohnungsauflösung! Mama soll nichts merken.«
    Währenddessen wartet meine Mutter zu Hause. Wahrscheinlich sitzt sie am Schreibtisch und raucht, wie eine echte Kroatin. Vielleicht versucht sie sogar zu arbeiten. Das würde ihr ähnlich sehen. »Mein Buch soll fertig werden, und wieder ist es zu einer Störung gekommen«, höre ich sie im Geiste murren. Ich rufe sie an und wirklich, sie sitzt an ihrem Schreibtisch, aber es gehe ihr nicht gut, ihr falle nichts ein, murmelt sie leise.
    Mein Vater war ihre große Liebe. Dass er nun gestorben ist, empfindet sie als persönlichen Affront. Großzügig überlässt sie mir die Regelung aller Angelegenheiten: die Organisation der Beerdigung, die Auflösung seines Arbeitszimmers, die Benachrichtigung der Kollegen, Freunde und Bekannten. Ichhänge mich ans Telefon. Eines schärft sie mir wiederholt ein: Wenn das Klinikum sich meldet: »Eine Obduktion, ja. Aber nicht den Kopf, den Kopf heil lassen, hörst du!? Das geht gegen die jüdischen Gesetze! Nicht den Kopf!«
    Thea Fuhrmann, meine Mutter, war knapp dreizehn, als sie meinen Vater kennenlernte. Man hatte ihr und ihrer Schwester Jelka erlaubt, einige Tage allein ans Meer nach Split zu fahren. Großzügig für die damalige Zeit. Es blieb nicht aus, dass die beiden Mädchen eine Gruppe jüdischer Jungs auf der Promenade kennenlernten. Ihr Anführer, nicht der größte, aber der charmanteste, hieß Jakob.
    Der oder keiner, beschloss Thea, bevor sie sich von ihm verabschiedete. Zwei Jahre später in Zagreb, 1938, auf dem großen Purim-Ball der jüdischen Gemeinde, zu dem die jüdische Jugend aus ganz Jugoslawien angereist kam, machte sie ihn mit ihren Plänen fürs weitere Leben bekannt. Auf dem Foto sieht mein damals 19-jähriger Vater so aus, dass auch ich mich sofort in ihn verliebt hätte. Meine Mutter war nicht die Einzige, viele Mädchen waren an ihm interessiert. Sie aber war hartnäckig. Sie parkte ihn in ihrem Herzen, und das blieb so bis zu seinem Tod. Diese Liebe überlebte eine andere Ehe, einen Weltkrieg, diverse Liebschaften und das Exil.
    Es kommt Bewegung in meine Schwester. Sie hat inzwischen die Zahnbürste meines Vaters für sich entdeckt. Die steht verlassen im Putzbecher. Ich hätte sie wahrscheinlich weggeworfen … Überhaupt holt sie vieles von dem, was ich wegwerfe, wieder aus dem Müll hervor. Die Dinge haben für sie wohl eine Bedeutung, die sie für mich nicht haben. Sie weint. Na gut, die Zimmerauflösung wird wahrscheinlich zwei Jahre in Anspruch nehmen.
    Das Arbeitszimmer hat Schränke bis zur Decke, voll bisobenhin. Viele medizinische Werke, etliche verfasst von meinem Vater. Auch sonst scheint er über Jahrzehnte nichts weggeworfen zu haben. Seifen, Badekappen, Schuhputzzeug aus Tausenden namhaften Hotels. Zucker, Streichholzschachteln, Postkarten, der gesamte Nippes aus dem Mittelmeerraum. Fotokopien von Artikeln über sich, über die Familie, über alle möglichen Kongresse, Zeitungsartikel über politische Ereignisse, in

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