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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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hinterhältigen Jungen in der Klasse hatte. Er hatte gedroht, jedem zu kündigen, der sich über seinen Sohn in irgendeiner Art kritisch äußerte. Ich wollte es nicht glauben. Doch dann sah ich diesen Sohn auf dem Schulhof. Er war gerade damit beschäftigt, seine goldene Montblancfeder im Auge eines Mitschülers zu versenken. Diesmal wurde die Polizei eingeschaltet und Anzeige erstattet. Der Sohn kam auf eine andere Privatschule, und die Klassenlage entspannte sich. Die restlichen Familienentpuppten sich als ausgesprochen herzlich und gebildet. Wir begannen uns anzufreunden, und heute kann ich aus Wassergläsern Wodka trinken.
    Auf der Jüdischen Oberschule sind die Hälfte der Kinder Nichtjuden.Warum christliche Eltern ihre Kinder auf eine jüdische Schule schicken, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht haben sie irgendeine Affinität zum Judentum, vielleicht sind sie nur besonders furchtlos, ihnen ist langweilig oder die Schule ist die nächstgelegene. Die Lehrer sind überdurchschnittlich jung und engagiert, auch sie scheinen freiwillig hier zu sein. Nach dem Mauerfall landeten viele Lehrer aus Ostberlin bei der frisch gegründeten jüdischen Schule. Sie geben fast alle Fächer, außer Religion, Bibelkunde und Hebräisch. Gefühlvolle, chaotische Israelis treffen im Kollegium nun auf engagierte, pragmatische Ostdeutsche. Diese Mischung gefällt mir, sie entspricht meinem Alltag.
    Was die Erziehung betrifft, scheinen die Unterschiede zwischen einem Kibbuznik und einem Pionier nicht allzu groß zu sein.
    Ich fahre wie zufällig an der Jüdischen Oberschule in Mitte vorbei, halte auf dem Seitenstreifen. Alles scheint wie immer, vom erhöhten Terrorrisiko ist nichts zu spüren. Die israelischen Sicherheitskräfte lehnen rauchend an der Hauswand, die Touristen fotografieren sie. Genauso stelle ich mir die Vorbereitung auf die jüdische Weltherrschaft vor.
    David liebt seine Schule und vor allem den Geschichtsunterricht, in dem man stundenlang diskutieren kann. In seiner pubertären Bescheidenheit hat er sich vor Kurzem als Referatsthema Goebbels vorgenommen. Tagelang lagen überall in der Wohnung Informationen und Internetseiten über Goebbels herum. Goebbels jung, Goebbels hinkend, Goebbels redend. Neben dem Frühstücksbrötchen die Fotografien der Familie Goebbels nach ihrem Selbstmord im Führerbunker aus unterschiedlichen Perspektiven. David probte seinen für fünfzehn Minuten geplanten Vortrag vor uns, wir am Küchentisch, er im Türrahmen. Wir bekamen Tonaufnahmen der Sportpalastrede zu hören, erfuhren psychologische Details aus Paul Joseph Goebbels’ komplexer Persönlichkeit. Nach einer Dreiviertelstunde waren wir erst bei der Machtergreifung angelangt. Müßig, David bremsen zu wollen. In der Schule würde man ihm eine Doppelstunde zur Verfügung stellen müssen. Wie mein Vater, dachte ich, als mir David glücklich das komplizierte Verhältnis zwischen SA und SS erläuterte. Politik ist für ihn spannend wie Fußball. Sammy war auf meinem Arm eingeschlafen, als die Familie Goebbels endlich die tödlichen Kapseln schluckte.
    David war neun Jahre alt, als ihm angeboten wurde, bei der Verfilmung des Lebens von Michael Degen, »Nicht alle waren Mörder«, den jungen Michael zu spielen. Michael, der in Berlin und Umgebung in Verstecken überlebt, Michael, versteckt von Kommunisten oder einfach engagierten Leuten, Michael, der den Kaddisch für seinen Vater spricht.
    David bekam einen gelben Stern an die Wolljacke genäht und spielte frisch drauflos. Er musste sich im zerbombten Berlin verstecken, verkleidet in der Uniform eines Hitlerjungen. Ich arbeitete daran, nicht an »Übertragung« zu erkranken. Realität und Fiktion begannen, sich fatal zu überlappen. Wie mein Vater damals, wie viele von uns, dachte ich und ging lieber selten zum Drehort. Die Crème de la Crème der deutschen Schauspielriege wurde aufgefahren, sie berlinerten, sie waren schnoddrig. In ihren Originalkostümen lagen sie so sehr auf ihren Rollen, dass der Abstand zwischen damals und jetzt immer kleiner wurde. Und David war Michael Degen. Der stand eines Nachts am Drehort neben mir und wir schauten stumm zu.
    Die Geschicklichkeit der deutschen Filmindustrie in Sachen Nazizeit war enorm gestiegen. Seit einiger Zeit waren dieDeutschen auch nicht mehr nur Mörder, sie wurden gute und immer bessere Menschen. Im Film jedenfalls. Sie versteckten Juden und halfen, sie waren unschuldige Opfer in Dresden und hilflose Invalide auf der »Wilhelm
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